Türkei nach dem Putschversuch: "Wache für die Demokratie" und Berichte über Welle der "Säuberung"

Nach dem Putschversuch in der Türkei sind Zehntausende Menschen bis zum frühen Sonntagmorgen auf die Straße gegangen, um das Scheitern der Umstürzler zu feiern und eine "Wache für die Demokratie" zu halten.

Die Bürger folgten einem Aufruf der Regierung, öffentliche Plätze nicht möglichen weiteren Putschisten zu überlassen. Zu der Aktion hatte die Staatsführung in einer SMS aufgerufen. Der Staatsapparat setzte derweil die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigte "Säuberung" bei Militär und Justiz fort. US-Außenminister John Kerry wies Behauptungen über eine Verwicklung der USA in den Putschversuch entschieden zurück.

Auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul versammelten sich Tausende Erdogan-Anhänger. Viele schwenkten die türkische Flagge und riefen "Gott ist groß". Auf den Straßen der Stadt fuhren hupende Auto- und Motorradkorsos. Die Ausgehviertel in der Metropole waren dagegen weitgehend verwaist.

Bei dem versuchten Umsturz wurden nach offiziellen Angaben mindestens 265 Menschen (161 regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten und 104 Putschisten) getötet und mehr als 1000 verletzt. Die Putschisten wollten nach eigenen Angaben Demokratie und Menschenrechte sowie die verfassungsmäßige Ordnung wiederherstellen.

Gegen 140 Richter und Staatsanwälte sind örtlichen Medien zufolge nach dem missglückten Coup bereits Haftbefehle ergangen. Mehrere türkische Medien berichteten in der Nacht zum Sonntag, dass sie unter anderem der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation beschuldigt würden.

Erdogan macht die Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich und kündigte Vergeltung an: "Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen." Über die Einführung der Todesstrafe könne im Parlament gesprochen werden, sagte Erdogan vor Anhängern. "Es ist auch nicht nötig, sich dafür von irgendwoher eine Erlaubnis einzuholen."

Für den Grünen-Politiker Omid Nouripour ist das "beängstigend", wie er der "Huffington Post Deutschland" sagte. Die Bundesregierung müsse klare Worte gegenüber Erdogan finden. Baue Erdogan ein "noch autoritäreres System auf, dann würde das die deutsch-türkischen Beziehungen belasten", warnte Nouripour. EU-Kommissar Günther Oettinger ermahnte die türkische Regierung in der "Welt am Sonntag", die demokratischen Grundrechte nach dem versuchten Putsch nicht weiter einzuschränken.

Gülen, nach einem schweren Zerwürfnis 2013 einer von Erdogans Erzfeinden, lebt in den USA und bestritt die Vorwürfe. Er verurteilte die Aktionen in einer Mitteilung scharf.

Erdogan verlangte von den USA die Auslieferung von Gülen. Wenn die USA und die Türkei tatsächlich strategische Partner seien, müsse Obama handeln. Die USA würden Außenminister John Kerry zufolge einen türkischen Antrag auf Auslieferung Gülens prüfen. Kerry wies in einem Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu Behauptungen über eine Verwicklung der USA in den gescheiterten Putschversuch energisch zurück. Diese seien "völlig falsch und schädlich für unsere bilateralen Beziehungen".

Der türkische Arbeitsminister Süleyman Soylu hatte dem Sender Habertürk gesagt: "Was Amerika tut, ist falsch. Ich sage es noch einmal: Der Urheber dieses Putsches ist Amerika - so lange es (Amerika) Fethullah Gülen dort behält. Erst wenn Amerika Fethullah Gülen in die Türkei schickt, kann es sagen: Ich bin nicht der Urheber dieses Putsches."

Ein klarer Anführer der Putschisten aus den Reihen des Militärs ist bislang nicht benannt worden. Allerdings wurden mehrere Generäle festgenommen, darunter Ex-Luftwaffenchef Akin Öztürk, der bislang dem Obersten Militärrat angehörte. Aus Regierungskreisen wurde Öztürk als einer der mutmaßlichen Drahtzieher bezeichnet. Nach Angaben aus Regierungskreisen hatten die Putschisten sechs F16-Kampfflugzeuge in ihre Gewalt gebracht.

Am Samstag waren nach Angaben aus Regierungskreisen bereits zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts in Ankara festgenommen worden, wie zuvor schon zehn Mitglieder des türkischen Staatsrats und fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte.

Insgesamt 2700 Richter wurden bereits abgesetzt - fast ein Fünftel der schätzungsweise rund 15 000 Richter in der Türkei. Der Chef der Richtergewerkschaft Yargiclar, Mustafa Karadag, sagte der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul, nicht nur mutmaßliche Unterstützer des Putsches, sondern auch völlig unbeteiligte Kritiker Erdogans würden festgenommen.

Offiziellen Angaben zufolge wurden in einer ersten Aktion auch mehr als 2800 Putschisten aus den Reihen der Streitkräfte festgenommen. Fünf Generäle und 29 Oberste sollen Regierungskreisen zufolge ihrer Posten enthoben worden sein. (dpa)