Schwerste Krise seit dem Bürgerkrieg: Geberkonferenz fordert Reformen vom Libanon

Der Libanon steht am Rande des Abgrunds. Über die Hälfte der Bevölkerung der einstigen Perle des Nahen Ostens lebt in Armut. Internationale Geldgeber sind gefordert und bekräftigen ihre Solidarität - nehmen aber auch Beirut in die Pflicht.



Paris/Berlin - Die internationale Gemeinschaft will dem krisengebeutelten Libanon weiter helfen, fordert aber die Bildung einer neuen Regierung und dringend notwendige Reformen. So ließe sich das Vertrauen des libanesischen Volkes und der ausländischen Geldgeber zurückgewinnen, erklärten Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron und UN-Generalsekretär António Guterres am späten Mittwochabend nach einer internationalen Videokonferenz. Macron und Guterres hatten die Gesprächsrunde geleitet.

Die Teilnehmer der Konferenz hätten besorgt darauf reagiert, dass sich die Untersuchung der verheerenden Explosion im August verzögere, hieß es in der Erklärung. Auch die sich abzeichnende humanitäre Krise bereite Sorgen. Reformen seien für die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft absolut entscheidend. Diese habe ihre Solidarität mit der libanesischen Bevölkerung nachdrücklich bekräftigt - ebenso wie die Verpflichtung, angesichts der Tragödie an deren Seite zu stehen. Ein Betrag für neue Hilfen wurde nicht genannt.

Aus Deutschland nahm Außenminister Heiko Maas teil. Macron hatte die internationale Gemeinschaft zuvor zu mehr Krisenhilfe für den Libanon aufgerufen. «Der Winter ist da, in einem bereits so verletzten Land», sagte er bei der Videokonferenz. Er monierte, dass bisherige Zusagen zur Regierungsbildung und einem Reform-Fahrplan nicht eingehalten worden seien. Er werde noch im laufenden Monat in das Nahostland reisen, kündigte Macron an. Als frühere Kolonialmacht hat Frankreich noch immer enge Beziehungen zu dem Mittelmeerstaat.

Anfang August hatte eine schwere Explosion den Hafen Beiruts erschüttert. Mehr als 190 Menschen starben, über 6000 wurden verletzt, etwa 300 000 obdachlos. Wenige Tage nach der Katastrophe kamen bei einer Geberkonferenz der internationalen Gemeinschaft knapp 253 Millionen Euro Soforthilfe zusammen. Macron bilanzierte, es sei mit über 280 Millionen Euro inzwischen sogar mehr ausgezahlt worden.

 

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Maas sagte der Deutschen Presse-Agentur, es sei «erschreckend, dass es noch immer keine Fortschritte bei der Regierungsbildung oder den

Gesprächen mit dem Internationalen Währungsfonds» gebe. «Die Parteien müssen nun endlich ihrer Verantwortung gerecht werden und alles dafür tun, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen.»

Seit den Tagen nach der Explosion ist das Land allerdings ohne funktionierende Regierung. Ex-Ministerpräsident Hassan Diab ist nur noch geschäftsführend im Amt. Dem designierten neuen Regierungschef Saad Hariri gelang es bisher nicht, ein Kabinett zu bilden. Maas betonte, die humanitäre Lage verschlechtere sich zusehends. Zwar sei Deutschland zweitgrößter Geber humanitärer Hilfe. «Weitere langfristige Hilfen zum Wiederaufbau und zur wirtschaftlichen Entwicklung hängen jedoch von den Entscheidungsträgern in Libanon ab», sagte der SPD-Politiker. «Denn die internationale Gemeinschaft ist zwar bereit, einen echten Reform- und Vertrauensbildungsprozess konstruktiv zu begleiten, das Fundament dafür muss jedoch in Libanon selbst gegossen werden.» Deutschland leiste allein im laufenden Jahr 146,5 Millionen Euro humanitäre Hilfe.



Unter den mehreren Dutzend Teilnehmern der Konferenz waren nach Angaben des französischen Präsidialamts König Abdullah II. von Jordanien, Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi und Weltbank-Chef David Malpass.



Libanons Präsident Michel Aoun erklärte, internationale Unterstützung sei für sein Land unverzichtbar. Die «vielfachen Tragödien», denen sich die Libanesen gegenübersähen, seien «dramatisch». Die Wirtschaftskrise habe ihre Ersparnisse und Jobs getroffen und untergrabe nun sogar die Zukunft ihrer Kinder. Das gesamte Finanzsystem des Libanons gehöre auf den Prüfstand, sagte Aoun. Dadurch könnten die Verantwortlichen für den Bankrott der Wirtschaft identifiziert und der Weg für Reformen geebnet werden.

Die seit dem Sommer 2019 andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise, die Corona-Pandemie und die Explosion von Beirut haben den Zedernstaat schwer getroffen. Das libanesische Pfund hat 80 Prozent seines Werts verloren. Nach Berechnung des Wirtschaftsprofessors Steve Hanke von der Universität Johns Hopkins beträgt die jährliche Inflationsrate 365 Prozent. Das sei die höchste Teuerungsrate weltweit nach Venezuela, sagte Hanke dem Magazin «Arabian Business». Nach UN-Angaben leben 55 Prozent der Bewohner in Armut - doppelt so viele wie im Vorjahr. (dpa)