Gesellschaftliche Bewegungen im Polizeistaat

Im Jahr 2010 soll Tunesien Teil einer Freihandelszone zwischen der EU und Nordafrika werden. Doch bis dahin wird das Land viele Arbeitsplätze einbüßen - und damit möglicherweise seine politische Stabilität. Von Bernhard Schmid

Im Jahr 2010 soll Tunesien Teil einer Freihandelszone zwischen der EU und Nordafrika werden. Doch bis dahin wird das Land viele Arbeitsplätze einbüßen - und damit möglicherweise seine politische Stabilität. Bernhard Schmid mit Hintergründen

Die Polizei ist allgegenwärtig in Tunesien, Foto: AP
Die Polizei ist allgegenwärtig in Tunesien

​​Tunesien könnte aus Sicht der Europäischen Union geradezu als "Musterländle" gelten. Hat das Land doch als erstes Land unter den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers bereits am 17. Juli 1995, also ein halbes Jahr vor der Konferenz zur "euro-mediterranen Partnerschaft" in Barcelona, ein Freihandelsabkommen mit der EU abgeschlossen. Bis zum Jahr 2010 sollen dessen Bestimmungen volle Wirksamkeit erlangen.

Auch in politischer Hinsicht wurde Tunesien nördlich des Mittelmeers lange Zeit als Modellfall gehandelt, wenngleich das Land seit seiner kontrollierten "Entlassung" in die Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956 ohne Unterbrechung autoritär durch die Staatspartei regiert wurde.

Doch in der ersten Periode, unter dem 1987 durch den jetzigen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali abgesetzten Staatschef Habib Bourguiba, der 30 Jahre lang im Amt blieb, herrschte noch eine Modernisierungselite aus den Reihen der einheimischen Bourgeoisie.

Diese Phase der Modernisierung von oben brachte besonders den Frauen in Tunesien schon Ende der 50er Jahre gesellschaftliche Rechte, wie sie - etwa beim Schwangerschaftsabbruch - die französischen Frauen erst 15 Jahre später offiziell erlangten.

Lippenbekenntnisse des Polizeistaats

Heute dagegen stützt sich das Polizeistaats-Regime zu Legitimationszwecken zwar noch auf diese Errungenschaften und argumentiert, man müsse sie durch flächendeckende Repression gegen eine potenzielle Bedrohung durch Islamisten verteidigen.

Allerdings erstickt das Regime, während es in Lippenbekenntnissen regelmäßig "die Rechte der tunesischen Frau" zu seiner Rechtfertigung heranzieht, jede Lebensäußerung einer unabhängigen Frauenorganisation oder -bewegung im Keim.

Das Gleiche gilt für jede andere Form von demokratischer Öffentlichkeit. Von der einstigen Entwicklungsdiktatur unter Bourguiba ist nur noch eine halbmafiose Herrschaft zweier oder dreier großer Familienclans übrig geblieben, die sich auf die ungenierteste Art und Weise um die materiellen Pfründe balgen.

Einträglicher Nepotismus

Da ist zum Beispiel die erweiterte Verwandtschaft von Ben Ali selbst - rund um seine zehn Brüder und Schwestern: Dieser Familienzweig ist vorwiegend im kriminellen Bereich tätig, etwa im Drogen-, Schmuggel- und illegalen Importgeschäft.

Da wäre aber auch die für ihre besondere Gier bekannte Großfamilie seiner Frau in zweiter Ehe, Leila Trabelsi, eine ehemalige Friseuse, die Ben Ali in den 80er Jahren kennen lernte. Die Trabelsis hatten ursprünglich kein Geld, konnten sich aber seit der Vermählung des Präsidenten mit Leila ein Vermögen auf Kredit aufbauen und kontrollieren heute den einzigen privaten Radiosender im Land, die wichtigste Flug- und Hotelgesellschaft (Carthago), die Vermarktung von Computerprodukten und von Haushaltsgeräten.

Und da gibt es schließlich den Chiboub-Clan, angeführt von Slim Chiboub, dem Präsidenten des größten Fußballsclubs im Land und Ehemanns einer der Töchter Ben Alis aus erster Ehe.

So bleiben "Politik" und Geschäft im offiziellen Tunesien heute vorwiegend eine Familienangelegenheit. Diese Clans teilen die frisch privatisierten Staatsunternehmen und die ebenfalls jüngst vom Staat abgestoßenen Importlizenzen für Fiat-, Audi-, VW- und Mercedes-Fahrzeuge unter sich auf.

Stabilität durch Wirtschaftswachstum

In Teilen der tunesischen Bourgeoisie und der Mittelschichten ballt man in kalter Wut die Faust in der Tasche über so viel hemmungslose Clanwirtschaft. Doch die Stabilität des tunesischen Polizeistaats wurde bisher - neben der bleiernen Last der Repression - auch dadurch abgesichert, dass die ökonomische Situation der Tunesier im Durchschnitt gar nicht so schlecht erscheint.

Zwar sind vor allem die Randzonen Tunesiens im Süden und Westen deutlich unterentwickelt. Doch gleichzeitig scheint eine manifeste Massenarmut, wie viele Menschen in Algerien oder Ägypten sie durchleben, lange Zeit unbekannt gewesen zu sein.

Nach offizieller Darstellung gehören 60 Prozent der Tunesier zu einer "breiten Mittelschicht", die als Träger politischer und sozialer Stabilität präsentiert wird. Die materielle Basis dafür lieferte vor allem das Wachstum der Textilindustrie, das insbesondere in den Jahren 1997 bis 2001 hohe Zuwachsraten verzeichnete.

Das jährliche Durchschnittseinkommen der Tunesier liegt derzeit bei 3.500 tunesischen Dinar oder 2.275 Euro und damit höher als in Marokko, Algerien oder Ägypten.

Die Grenzen des Wachstums

Dennoch ist das tunesische "Modell" - autoritäre politische Kontrolle plus anhaltendes Wirtschaftswachstum gleich "Stabilität" - seit längerem an seine Grenzen gestoßen.

Nach offiziellen Zahlen sind derzeit gut 16 Prozent der tunesischen Bevölkerung arbeitslos; andere Quellen sprechen von über 20 Prozent. Dabei existieren in dem Land keine Arbeitslosengelder oder -hilfen, sondern nur punktuelle Hilfszahlungen in Gestalt von Abfindungen, die im Falle von Entlassungen durch die Sozialversicherung ausgeschüttet werden.

Schlimmer noch: 68 Prozent der Arbeitsuchenden sind jünger als 30 Jahre, und zwei Drittel von ihnen haben mindestens Abitur oder sogar einen Hochschulabschluss. Das bedeutet, dass der Arbeitsmarkt nicht länger aufnahmefähig ist und den jüngeren Generationen nicht mehr viel zu bieten hat.

Ökonomische Nischen

Tunesien, das anders als seine Nachbarn Algerien und Libyen keine Erdölvorkommen aufweist, hat sich seit längerem auf ökonomische "Nischen" spezialisiert: Auf die aus Europa abwandernde Textilindustrie sowie auf manche Zubehör-Produktionen, wie etwa die Herstellung von Sitzbezügen für die europäische Automobil-Zuliefererindustrie.

Hinzu kommen natürlich der Tourismus und die damit zusammenhängenden Dienstleistungsbranchen. Zeitweise wurde auch auf die Fertigung von elektronischen Komponenten abgestellt, allerdings wurde hier rasch der Konkurrenzdruck durch die "noch billigere" ostasiatische Industrie spürbar.

Doch nun drohen ähnliche Auswirkungen der Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung, die oft als "Globalisierung" bezeichnet werden, auch andere Sektoren der tunesischen Ökonomie hart zu treffen. Dabei ist das Land besonders verwundbar, weil es besonders stark von der Weltmarktbindung abhängig ist.

Hoher "Öffnungsgrad"

Bichara Khader, der Herausgeber eines 2001 in Paris erschienenen Sammelbands zum Thema "Euro-mediterrane Partnerschaft aus der Sicht des Südens" hat für mehrere Länder einen "Öffnungsgrad" der jeweiligen Ökonomien errechnet, indem er die Summe der Importe und Exporte ins Verhältnis zum Bruttosozialprodukt des Landes stellt.

Diese Berechnung mag als Indiz einen gewissen Wert aufweisen. Demnach beträgt dieser "Öffnungsgrad" für Mexiko heute 22 Prozent, hingegen für Marokko 39 Prozent und 43 Prozent für Algerien, für Tunesien aber bereits 82 Prozent.

Tunesiens Binnenmarkt ist mit zehn Millionen Einwohnern relativ klein. Vor allem aber blieb jede wirtschaftliche "Süd-Süd-Integration" aus zugunsten einer Ausrichtung auf die Ökonomien des Nordens. 70 Prozent seines Außenhandels wickelte Tunesien zu Anfang des Jahrzehnts mit der EU ab.

Sein mit Abstand größtes Nachbarland, Algerien, wiegt hingegen nur 2 Prozent der auf legalem Wege außer Landes gehenden tunesischen Exporte. Die tunesische Ökonomie ist also in vielfacher Hinsicht kartellisiert, aber sie ist zugleich in keiner Weise gegen die Konkurrenzmechanismen des Weltmarkts geschützt.

Bedrohung aus China

Zum Jahreswechsel 2004/05 läuft das "Multifaserabkommen" (Arrangement multifibres) aus, ein internationales Wirtschaftsabkommen, das den Textil-Exporteuren bis dahin bestimmte Importquoten in den "westlichen Industrieländern" garantierte.

Nun drohen kleinere Exportländer wie Tunesien unter die "Dampfwalze" der Massenproduktion in der VR China zu geraten; Tunesien wird nach Angaben der französischen Wirtschaftspresse zu den zehn Ländern gerechnet, die in diesem Kontext "am stärksten bedroht" sind.

Der Textilsektor entspricht bisher 50 Prozent der tunesischen Exporterlöse und 250.000 Arbeitsplätzen, das sind etwa die Hälfte der industriellen Arbeitsplätze im Land.

Und der nächste Schlag für die tunesische Ökonomie wird ab 2008 erfolgen: Dann ist das Land nämlich aufgefordert, im Rahmen des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union seine Zollschranken abzubauen.

Freihandelszone mit der EU

Bis zum Jahr 2010 soll so eine Freihandelszone zwischen der EU und ihren südlichen Nachbarn entstehen: Marokko (1996) und Algerien (2002) haben ebenfalls entsprechende Assoziierungsverträge mit der EU abgeschlossen.

Bisher hat die tunesische Ökonomie noch von den Folgewirkungen des Abkommens profitiert, vor allem von Exporterleichterungen in Richtung EU, die die - vorübergehende? - Ansiedlung bestimmter Wirtschaftszweige im Lande förderten.

Doch ab 2008 muss nun umgekehrt auch Tunesien seinen Markt öffnen und damit Schutzzölle abbauen, die bisher noch lokale Produktionen gegen die übermächtige wirtschaftliche Konkurrenz aus dem Norden abschirmten.

Bisher sagt selbst die Weltbank in diesem Zusammenhang den Verlust von mindestens 100.000 Arbeitsplätzen voraus. Dann könnte es mit der viel beschworenen Stabilität in Tunesien vielleicht vorüber sein.

Bernhard Schmid

© Qantara.de 2004