"In der arabischen Welt werden die Medien als Teil der Schlacht gesehen"

Welches mediale Selbstverständnis haben Journalisten in der arabischen Welt und wie wirken Bilder von Konflikten auf die Fernsehzuschauer in der Region? Darüber sprach Qantara.de mit den drei arabischen Medienschaffenden Khaled Hroub, Nakhle El Hage und Aktham Suliman.

Studio von Al-Arabiya; Foto: dpa
Zwar haben sich die arabischen Satellitenmedien in den letzten Jahren rasant entwickelt, modernisiert und an Einfluss gewonnen, jedoch herrscht noch viel Unklarheit über ihr Selbstverständnis

​​Welches sind die größten Probleme, mit denen Sie sich als Journalist eines arabischen Fernsehsenders konfrontiert sehen?

Nakhle El Hage: Eines der größten Probleme ist der Markt. Wir arbeiten in einem sehr kleinen Markt, etwa so groß wie der einer deutschen Stadt, in dem sich ungefähr 200 Satellitensender einen harten Konkurrenzkampf um Werbeaufträge liefern. Außerdem sind die Gesetze in vielen arabischen Ländern sehr restriktiv. Journalisten können einfach verhaftet oder Niederlassungen von Medien geschlossen werden.

Im deutschen Pressekodex werden unter Punkt 1 die "Achtung der Wahrheit, Wahrung der Menschenwürde und wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit" festgeschrieben. Weder im arabischen noch im islamischen Pressekodex und auch nicht bei Al-Jazeeras eigenen Pressekodex lesen wir etwas von Menschenwürde. Warum nicht?

Aktham Suliman: Im Pressekodex von Al-Jazeera, den viele im Ausland von uns gefordert haben, wird die Respektierung der Gefühle der Opfer, ihrer Angehörigen und der Zuschauer erwähnt. Die Würde des Menschen wird dort nicht erwähnt.

Aktham Suliman; Foto: DW
Aktham Suliman, Büroleiter von Al-Jazeera in Berlin

​​Vielleicht handelt es sich um die arabische Sichtweise, nach der es unwahrscheinlich ist, dass Medien die Würde verletzen könnten. Gefühle umfassen auch die Idee der Würde.

Aber es gibt natürlich einen fundamentalen Unterschied: Gefühle werden von dem jeweiligen Menschen definiert und nicht von einer internationalen Institution. Man könnte also fragen: Warum werden die Gefühle eines Menschen irgendwo auf der Welt, der vielleicht gerade Pizza isst, von Nahaufnahmen aus dem Dorf Qana im Libanon verletzt?

In Al-Jazeera und anderen arabischen Fernsehkanälen können wir Menschen sehen, die die Leichen ihrer Kinder hochhalten und sagen: Zeigt es der Welt! Sie fordern uns dazu auf. Das heißt, wir müssen die Begriffe 'Gefühle' und 'Würde' nach der jeweiligen Person festlegen.

El Hage: Die arabischen Medien haben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt, ihr Einfluss hat zugenommen und sie sind professioneller geworden. Aber ich denke, dass das Verständnis ihrer Rolle noch nicht reif ist.

In der arabischen Welt werden die Medien als Teil der Schlacht gesehen und nicht als distanzierter Beobachter. Deswegen erwarten viele von uns, dass wir Leichen zeigen, um damit den Verlauf der Schlacht und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Aber die Frage ist doch: Muss man dieser Forderung nachgehen, wenn man aufgefordert wird, Leichen zu zeigen?

Khaled Hroub: Ich glaube, die beste Herangehensweise ist, sich einem Thema nach dem anderen zu widmen. Zum Beispiel Irak. Ich finde es menschenverachtend, eine Geisel mit einer Pistole an der Schläfe zu zeigen. Das kann man auch als Nachricht vermitteln.

Khaled Hroub; Foto: Ingmar Kreisl
Khaled Hroub, Publizist, freier Mitarbeiter bei Al-Jazeera und Leiter des Cambridge Arab Media Projects

​​Bei dem libanesischen Vater, der die Leiche seines Sohnes in die Kamera hält, verhält es sich anders. Darüber müssen wir diskutieren. Ich bin mir sicher, wenn wir grausame Bilder in Europa während des Zweiten Weltkrieges zur Verfügung gehabt hätten, dann wäre der Krieg schneller beendet worden.

Welche Möglichkeiten hat ein Fernsehzuschauer, wenn seine Würde oder die eines Angehörigen durch ausgestrahlte Bilder verletzt wurde?

Suliman: Wieso? Trägt etwa der Fernsehkanal die Schuld an dem Tod? Ich sollte eigentlich dem Fernsehen dankbar sein, dass er mich darüber informiert hat. Dass die Würde eines Toten verletzt wird, wenn ich die Leiche zeige, ist ein westliches Verständnis. So etwas existiert nicht in der arabischen Welt.

Wenn ein Hamas-Mitglied in Palästina getötet wird, dann wird er hochgehalten, damit die Kameras ihn filmen und die Menschen ihn sehen. Das heißt, der Umgang mit dem Tod ist anders. Es gibt ja auch den islamischen Begriff des Märtyrers, der keine Totenwäsche bekommt. Das heißt, auch die Wunden und die Verstümmelungen des Märtyrers sind ein Grund, stolz zu sein. Das ist ein Teil der Kultur und der Religion.

El Hage: Ich denke, dass so ein Bild allemal sehr schmerzlich ist und die Würde verletzt. Natürlich hat die Kultur in der arabischen Welt einen eigenen Begriff von Märtyrer, aber es handelt sich um einen religiösen und um einen kulturellen Blickwinkel. Und ich glaube nicht, dass wir uns als Medienschaffende als Teil einer Schlacht missbrauchen lassen sollten.

Nakhle El Hage; Foto: Ingmar Kreisl
Nakhle El Hage, Nachrichtendirektor von Al-Arabiya

​​Wenn ein Hamas-Anhänger getötet und sein Leichnam hochgehalten wird, damit der arabische Zuschauer beeinflusst und aufgefordert wird, Partei zu ergreifen, dann muss ich dabei nicht mitmachen: Ich muss mich nicht der "arabischen Straße" beugen, oder der arabischen, der islamischen oder der christlichen Kultur.

Suliman: Auch wenn ich der Kultur kritisch gegenüberstehe, so bleibe ich doch ein Teil von ihr, sonst wäre ich ja ein westlicher Journalist.

Die arabischen Satellitensender haben es in den letzten Jahren geschafft, mit vielen politischen Tabus in der arabischen Welt zu brechen. Welche Tabus existieren noch? Wie sieht es mit den religiösen und gesellschaftlichen Tabus aus?

Hroub: Die arabischen Sender haben es bis jetzt nicht gewagt, an religiösen und gesellschaftlichen Tabus zu rütteln, denn damit würden sie in Konfrontation zu ihrem Publikum gehen und es möglicherweise verlieren.

Suliman: Politische Tabus zu brechen, war am leichtesten. Man braucht einen Emir, der einen Sender finanziert oder einen Staat, der sich entschließt, einen Konkurrenzsender zu gründen.

Die arabischen Gesellschaften sind sehr unterschiedlich. Es gibt große Ähnlichkeiten beispielsweise zwischen der syrischen, der libanesischen und der palästinensischen Gesellschaft. Aber die Gesellschaften in Marokko oder etwa Saudi Arabiens sind grundlegend anders. Es gehört nicht zu unseren Aufgaben, soziale und religiöse Tabus zu brechen. Wir begleiten die Veränderungen.

In den letzten Jahren haben sich die Medien im Westen stark verändert. Sie unterliegen oft den Zwängen der Kommerzialisierung, und guter Journalismus bleibt auf der Strecke. Wie sieht die Entwicklung bei Ihnen aus?

El Hage: Es gibt keine bessere Alternative als den Markt. Die andere Möglichkeit hieße, dass wir von den Regierungen kontrolliert werden, und das wäre eindeutig die schlechtere Alternative.

In der arabischen Welt sind wir optimistischer als hier in Deutschland. In den letzten Jahren haben die Medien eine große Entwicklung durchgemacht. Wir lösen uns immer mehr von den Regierungen, und unsere Grenzen werden immer weiter gesteckt.

Interview: Arian Fariborz und Mona Naggar

© Qantara.de 2006

Aktham Suliman, Nakhle El Hage und Khaled Hroub waren Gäste einer von der Deutschen Welle veranstalteten Diskussion zum Thema "Blick nach Westen - Arabische Medien fünf Jahre nach 9/11".

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