Am anderen Ufer

Über Assoziierungsabkommen sind die Maghreb-Staaten wirtschaftlich eng an die EU gebunden. Anders als die künftigen Mitglieder im Osten haben sie aber kein Mitspracherecht in der Union, sondern sind auf deren Wohlwollen angewiesen.

Über Assoziierungsabkommen sind die nordafrikanischen Staaten wirtschaftlich eng an die EU gebunden. Anders als die künftigen Mitglieder im Osten haben sie aber kein Mitspracherecht in der Union, sondern sind auf deren Wohlwollen angewiesen. Bernhard Schmid berichtet.

Foto: Markus Kirchgessner
Streng bewachter Außenposten: Spaniens Exklave Mellila in Marokko

​​Am 1. Mai dieses Jahres wächst die Europäische Union auf 25 Mitglieder. Nun scheint es Gestalt anzunehmen, das »gemeinsame Haus Europa«, von dem der sowjetische Präsident Michael Gorbatschow so gerne sprach.

»Gemeinsames Haus Europa«, das bedeutete für viele immer auch: Türken, Marokkaner und Ägypter sollen draußen bleiben, sie sind nicht zivilisiert wie wir. Freilich wird auch der größte Teil der ehemaligen UdSSR auf absehbare Zeit vor den Toren des sich formenden »neuen Europa« bleiben.

Wirtschaftliche Abkoppelung befürchtet

In der südlichen Peripherie des europäischen Kontinents, die am anderen Ufer des Mittelmeers beginnt, geht die Angst um, noch stärker als bisher wirtschaftlich abgekoppelt zu werden, wenn die EU sich verstärkt ihren neuen Märkten, demnächst Binnenmärkten, im Osten zuwendet. "Der Süden im Schatten des Ostens" lautete schon 1990 der Titel einer Reportage der Pariser Tageszeitung Libération aus Dakar und Algier zu diesem Thema.

Dabei nahm die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG, die Vorläuferin der heutigen EU, bereits in ihrem Gründungsdokument, den Römischen Verträgen von 1957, in einem Annex-Protokoll explizit auf Algerien und Tunesien Bezug.

Allerdings wurden diese Länder dabei nicht als Subjekte behandelt, sondern lediglich über ihre "privilegierten Wirtschaftsbeziehungen" zum EWG-Mitglied Frankreich definiert. Tunesien war damals noch kein Jahr unabhängig und Algerien noch französisches Hoheitsgebiet, auf dem allerdings der Unabhängigkeitskrieg tobte.

Seit den sechziger Jahren drängen die inzwischen meist unabhängigen Staaten des südlichen Mittelmeerufers auf eine stärkere wirtschaftliche Anbindung an die EWG. Da ihre Ökonomien während der Kolonialära stark auf die Märkte der Metropolen ausgerichtet waren, wollen sie auch weiterhin einen erleichterten Zugang zu diesen Absatzmärkten für ihre Agrarprodukte.

Eine Ausnahme bildet Algerien, das einerseits über Erdöl verfügt und andererseits noch bis Ende der siebziger Jahre versucht, auf dem Wege einer staatssozialistischen Industrialisierungspolitik von den europäischen Staaten unabhängiger zu werden.

Im Oktober 1972 beschließt der EWG-Gipfel in Paris eine Politik der Assoziierungsverträge gegenüber den Staaten im südlichen und östlichen Mittelmeerraum. Diese Abkommen garantieren den freien Warenverkehr für alle Industrie- und für eine Reihe von Agrarprodukten. Dabei werden vor allem industrielle Erzeugnisse vom Norden in den Süden verkauft, die landwirtschaftlichen in umgekehrter Richtung.

"Freiwillige Selbstbeschränkung" für den Süden

Mitte der achtziger Jahre versucht die EWG diesen Warenverkehr wieder einzuschränken, da es gilt, die damals noch ähnlich strukturierten Ökonomien der Neumitglieder Spanien und Portugal vor der Konkurrenz etwa bei Textil- und Agrarprodukten zu schützen. Die Abkommen werden zwar nicht gekündigt, aber die südlichen Anrainerländer müssen sich "freiwillige Selbstbeschränkungen" auferlegen und ihre Marktanteile auf jene der Jahre 1980 bis 1984 begrenzen.

Mit der Öffnung in Osteuropa verengt sich der Spielraum vor allem für die Maghreb-Länder. Konkret macht sich vor allem eine Umlenkung der Kredite und der öffentlichen Wirtschaftshilfe vom Süden in den Osten bemerkbar.

In den Jahren von 1991 bis 1994 etwa wurden den südlichen Mittelmeerländern nur noch 1,6 Milliarden Ecu (die damalige europäische Verrechnungseinheit) an Krediten aus öffentlichen Haushalten der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union gewährt. Dagegen flossen bereits 3,8 Milliarden Ecu nach Osteuropa.

Umgekehrt blieb das Handelsvolumen der EG/EU im Austausch mit den südlichen Nachbarländern zunächst noch größer als jenes mit Ost- und Südosteuropa, mit 78,8 gegenüber 46,4 Milliarden Ecu. Zugleich war der Südhandel profitabler als der Handel mit dem Osten, der Handelsbilanzüberschuss der EU fiel im ersten Fall mehr als doppelt so hoch aus (12,4 gegenüber 5,8 Milliarden Ecu).

Zweckgebundene Partnerschaft

Mitte der neunziger Jahre versucht dann die Europäische Union, ihre Beziehung zu ihren südlichen Nachbarn wieder zu verbessern. Dafür gibt es mehrere Gründe. So suchen manche EU-Staaten nach einem Gegengewicht zur wirtschaftlichen Expansion in Osteuropa, die aus ihrer Sicht vor allem Deutschland zugute kommt.

Außerdem wird nach dem von den USA angeführten Krieg gegen den Irak im Jahr 1991 befürchtet, dass der eigene Einfluss im Großraum vom Maghreb bis zum Golf schwinden könnte.

Vor dem Hintergrund der algerischen Krise werden Auswirkungen des militanten Islamismus, vor allem aber mögliche »Flüchtlingsströme« befürchtet. Letztere bildeten immer ein wichtiges Thema bei der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit vor allem mit Marokko und Tunesien.

So machte sich die marokkanische Monarchie zum Sachwalter französischer Interessen bei der Verhinderung der Emigration aus ihrem Staat. Der Vater des jetzigen Königs, Hassan II, empfing in dieser Sache 1996 sogar den französischen Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen.

Marokko ist ferner auch ein wichtiges Durchgangsland für Migranten aus dem subsaharischen Afrika in Richtung Europa. Der Polizeiapparat der autoritären Staaten Marokko und Tunesien wurde mit europäischer Hilfe aufgerüstet, um Schiffe mit Flüchtlingen erkennen und abfangen zu können.

Auf einer Europa-Mittelmeer-Konferenz in Barcelona wird 1995 mit viel Getöse und Versprechungen über "interkulturelle Zusammenarbeit" und den Abbau von Vorurteilen der Startschuss für die Herausbildung einer Freihandelszone rund um das Mittelmeer abgegeben.

Bevorzugtes Instrument dabei ist der Abschluss bilateraler Abkommen zwischen der EU und jeweils einem Land. Mit Ausnahme Libyens haben nun alle Mittelmeeranrainer solche Abkommen im Rahmen der "Partnerschaft Europa-Mittelmeer" mit der EU geschlossen. Als eines der letzten Länder unterzeichnete Algerien im April 2002, am Rande des Gipfels in Valencia.

Beitrittsperspektive in weiter Ferne

Die Abkommen ähneln den Verträgen mit den Beitrittskandidaten, eröffnen aber keine Perspektive zur Aufnahme in die Union. In der Regel sehen sie Bedingungen in Form eines als unumkehrbar definierten wirtschaftlichen Liberalisierungsprozesses in den Ökonomien südlich des Mittelmeers vor. Bis 2008 bzw. 2010 sollen etwa in Tunesien sämtliche Zölle und Importschranken, die die kaum konkurrenzfähige nationale Ökonomie vor den ungleich wettbewerbsfähigeren westlichen Firmen schützen sollen, gefallen sein.

Bisher profitierte das Land allerdings von dem Zugang zum EU-Markt, da es sich auf bestimmte Wirtschaftszweige konzentriert – etwa den Tourismus, die Elektronik und die Autozulieferung. Zum Ende des Jahrzehnts werden sich vermutlich die Schattenseiten mit dem Zusammenbruch nicht konkurrenzfähiger heimischer Industrien, verstärkter Arbeitslosigkeit und mehr wirtschaftlicher Abhängigkeit stärker bemerkbar machen.

Zu den wirtschaftsliberalen Reformen heißt es in einem Dokument des "Commissariat général au Plan", einer französischen Wirtschaftsbehörde, aus dem Jahr 2000, es sei faktisch "das Gewicht des europäischen Voluntarismus entscheidend, da die südlichen Mittelmeerländer nicht in der Lage sind, Motoren eines solchen Prozesses zu sein" - eine deutliche Sprache.

Zugleich enthalten die Freihandelsabkommen Klauseln mit politischen Konditionen. Sie betreffen vor allem die Einhaltung der Menschenrechte. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Alibi gegenüber einer möglicherweise kritischen Öffentlichkeit, sondern auch um ein potenzielles Druckmittel gegenüber den zumeist zweifellos autoritären Staatsführungen. Nur für den Fall, dass diese einmal zu starke eigene Interessen anmelden sollten.

© Bernhard Schmid

Der Artikel erschien erstmals im Januar 2004 in der Wochenzeitung "Jungle World"