Zwischen Zuversicht und Orientierungslosigkeit

Einen Monat nach der Jasminrevolution herrscht in der tunesischen Gesellschaft - als Folge von rund drei Jahrzehnten Diktatur - große Unsicherheit vor. Eine schwierige Ausgangslage für den dringend notwendigen Wiederaufbau der Gesellschaft, wie Beat Stauffer aus Tunis berichtet.

Demonstranten in Tunis fordern die Auflösung des RCD; Foto: AP
"Raus mit dem RCD!" - Der früheren Partei Ben Alis ist bereits seit Anfang Februar jegliche politische Betätigung verboten. Alle Parteibüros wurden geschlossen. Das tunesische Innenministerium hat inzwischen die Auflösung des RCD beantragt.

​​ In Tunesien ist die erste Begeisterung über den unerwartet raschen Sturz des verhassten Regimes mittlerweile verflogen, und der schwierige Umbau der Gesellschaft ist in vollem Gang.

Auf politischer Ebene sind mit der Auflösung der ehemaligen Einheitspartei RCD und der Einsetzung einer Kommission, welche die Verbrechen des Ben Ali-Regimes aufklären soll, schon erste, wichtige Weichenstellungen erfolgt.

Allen Schwierigkeiten und der immer noch herrschenden Unsicherheit zum Trotz scheint der Wandel Erfolg zu versprechen. Rund die Hälfte dieses langen Weges, so der Oppositionelle Moncef Marzouki, habe Tunesien bereits zurückgelegt.

Umso mehr richten sich die Blicke auf die gegenwärtige moralische Verfassung der tunesischen Gesellschaft. Denn von ihr wird es ganz wesentlich abhängen, ob es das Land schaffen wird, die zahlreichen Klippen und Fallstricke auf dem Weg von einer totalitären zu einer offenen und demokratischen Gesellschaft zu meistern.

Neuorientierung gefragt

Doch so groß der Mut und die Entschlossenheit der verzweifelten jungen Menschen aus Sidi Bouzid, Kasserine und Tala auch sein mögen, jetzt sind andere Qualitäten gefragt, um die Jasminrevolution zum abschließenden Erfolg zu führen.

Moncef Marzouki; Foto: AP
Als Volksheld gefeiert: Der 65-jährige Medizinprofessor und Oppositionelle Marzouki glaubt, dass Tunesien bereits die Hälfte des langen Weges in Richtung Demokratie zurückgelegt hat.

​​Es ist ein Zeichen erstaunlicher politischer Reife, dass viele Tunesierinnen und Tunesier es nun wagen, sich diesen Fragen zu stellen und sich nicht von euphorischen Gefühlen tragen zu lassen. Dies umso mehr, als die Bestandsaufnahme meist kritisch, gelegentlich auch düster ausfällt.

Die Herrschaft Ben Alis, darin sind sich alle einig, hat auf jeden Fall Langzeitschäden verursacht, die sich nicht vom einen auf den anderen Tag korrigieren lassen. Wenn der Präsident sich etwa zehntausendfach als gütiger Landesvater mit der Hand auf dem Herzen abbilden ließ und zur "Solidarität" aufrief, gleichzeitig aber das Land nach Strich und Faden ausplünderte, so dürfte dieser Wert bei vielen Tunesiern an Glaubwürdigkeit verloren haben.

Dasselbe gilt für den Begriff der Menschenrechte, den das Regime auf widerliche Weise instrumentalisierte, gleichzeitig aber Tausende von politischen Gegnern schikanieren, inhaftieren oder gar foltern ließ. Der Schaden dürfte insbesondere bei der jüngeren Generation immens groß sein, und es wird viel Zeit für den Aufbau benötigt werden, damit diese missbrauchten Begriffe wieder ihre ursprüngliche Bedeutung einnehmen werden.

Gesellschaftlicher Zerfall als Erbe Ben Alis

Für Lamine Msali, Direktor eines Gymnasiums in der Provinzstadt El Kef, sind die Schäden gravierend. "Wir werden noch lange von dieser unter Ben Ali herangezüchteten Mentalität verfolgt werden", sagt Msali. Er attestiert der gesamten Gesellschaft eine "innere Zersetzung", die seit 1987, dem Datum der Machtübernahme durch Ben Ali, eingesetzt habe.

Zine el Abidine Ben Ali auf einem Plakat in Hammamet; Foto: DW
Als gütiger Landesvater mit der Hand auf dem Herzen in ganz Tunesien omnipräsent: Der Diktator Zine el Abidine Ben Ali hatte sein Volk jahrzehntelang eisern im Griff.

​​Die Korruption habe seitdem in unglaublichem Ausmaß zugenommen – unter Anwälten, Richtern und Polizeioffizieren sei sie gang und gäbe. Dabei sei der Verkehrspolizist, der 20 Dinar fordere, um den Bürger in Ruhe zu lassen, im Vergleich zu den "großen Gaunern" innerhalb der Gesellschaft noch fast zu vernachlässigen.

Als dramatisch erachtet der Schuldirektor die Lage im Erziehungswesen. Das Niveau des Unterrichts sei gewaltig gesunken, und illegale Praktiken hätten in vielen Schulen Einzug gehalten. So würden Lehrer in staatlichen Schulhäusern gegen Bezahlung Privatunterricht erteilen, und oft ließen sich Prüfungsergebnisse durch Bestechung "aufbessern".

Die Gewerkschaften seien stets im Bild über solche Praktiken gewesen, hätten diese jedoch toleriert. Aus diesem Grund trügen sie ebenfalls eine Mitschuld an der verfahrenen Situation im Bildungsbereich.

Partikularinteressen vor Gemeinschaftswohl

Für den Schuldirektor ist das Schlimmste aber die Orientierungslosigkeit, die er bei vielen Jugendlichen konstatiert. Es werde sehr schwierig sein, mit solchen jungen Menschen eine neue Gesellschaft aufzubauen. Denn dazu seien Verantwortungsbewusstsein, Bürgersinn und die Bereitschaft, das Interesse des Landes vor Partikularinteressen zu stellen, absolut zentral.

​​Diese Werte seien aber im heutigen Tunesien nur schwach ausgeprägt. Msali befürchtet deshalb harte Verteilungskämpfe in den kommenden Monaten und Jahren.

Viele tunesische Intellektuelle beurteilen die Lage weniger dramatisch, diagnostizieren aber durchaus ähnliche Probleme. Die an der Universität Tunis lehrende Islamwissenschafterin Amel Grami ist besorgt über einen um sich greifenden Egoismus, aber auch einen Mangel an Bürgersinn ("Civisme") und Anstand.

In TV-Debatten würden selbst Minister auf grobe Weise beschimpft, und ab und zu würden Befragungen sogar inquisitorische Züge annehmen. Viele Menschen in Tunesien hielten sich zudem nicht mehr an die Gesetze, was bereits zu großen Problemen geführt habe. So würden zurzeit überall im Land Häuser ohne Baubewilligungen errichtet, und staatliches Land werde einfach von Privatpersonen beschlagnahmt.

Auch der Jurist Ridha Fraoua bestätigt einen zunehmenden gesellschaftlichen Trend in Richtung Egoismus und Materialismus. Für Fraoua ist es allerdings legitim, dass Menschen, die während ihres gesamten Lebens unter prekären materiellen Verhältnissen gelebt haben, nun höhere Löhne und eine soziale Absicherung einfordern. Die tunesische Gesellschaft müsse lernen, mit diesen neu vorgebrachten Ansprüchen umzugehen.

Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung. Seit kurzem findet etwa einmal in der Woche eine "Karawane der Solidarität" statt, die von Tunis aus in arme und marginalisierte Regionen des Landes führt. Für Grami ist dies ein Zeichen dafür, dass sich Menschen in der reichen Hauptstadt der tiefen Kluft bewusst sind, die das Land spaltet, und auch dazu bereit sind, sich persönlich zu engagieren. Doch der Weg, den Tunesien noch vor sich habe, meint die Islamwissenschafterin, werde noch sehr lang sein.

Beat Stauffer

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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