Von den Türkenkriegen zum 11. September

Die "Geistliche Anleitung" gab den Terroristen vom 11. September bis ins Detail vor, wie sie sich zu verhalten hatten. Jetzt ist eine ausführliche Analyse der religiös begründeten Anleitung zum Terror erschienen. Von Ronald Düker

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Mohammed Atta, einer der Attentäter vom 11. September hinterließ ein Buch mit einer schrittweisen Anleitung zur Durchführung der Anschläge

​​Zum 11. September 2001 scheint nun, nach dreieinhalb Jahren, das Wichtigste gesagt zu sein. Auch wenn die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon noch immer weit davon entfernt sind, in all ihren Einzelaspekten ergründet und abschließend beurteilt worden zu sein, so hat man sich zumindest in den Medien der westlichen Welt darauf geeinigt, welcher Version des Tathergangs am ehesten zu trauen ist.

Wo immer eine Neuigkeit oder eine abweichende Interpretation auftaucht, ist auch der Vorwurf der Verschwörungstheorie nicht fern.

Geklärt werden heute nur mehr die Details der Tat. So versucht sich der Prozess, der den Terroristen vom 11. September derzeit in Hamburg gemacht wird, an einer Rekonstruktion des Geschehens an Bord der entführten Maschinen. Dem Gericht geht es aber auch darum, den Todespiloten direkte Verbindungen zu anderen Terrorzellen nachzuweisen.

Was der kriminalistischen Investigation allerdings abgeht, ist das Bemühen um ein profunderes Verständnis der Motivation der jungen Männer. Sie waren systematisch angeleitet worden, die religiöse islamische Kategorie des Dschihad mit einem gezielt geplanten Massenmord zu verwechseln.

Drei Exemplare der Terrorfibel

Erstaunlicherweise ist ein Dokument, das diesen Hintergrund zu verstehen hilft, bislang weithin unbeachtet geblieben. Dabei ist die Existenz dieses Schriftstücks kein Geheimnis – der amerikanische Justizminister John Ashcroft und FBI-Direktor Robert Mueller verteilten Kopien davon bereits am 28. September 2001 an Journalisten, zwei Tage später veröffentlichte der britische "Observer" eine englische Übersetzung des Textes.

Die so genannte "Geistliche Anleitung" ist ein vierseitiges handschriftliches Dokument in arabischer Sprache. Es wurde gemeinsam mit einem englischsprachigen Testament in einer Reisetasche von Mohammed Atta gefunden, die auf dem Flughafen von Boston, der eine Zwischenstation seines fatalen Todesfluges gewesen war, nicht verladen wurde.

Eine weitere Kopie der Anleitung fand sich im Auto des Tatverdächtigen Nawa al-Hazmi, ein drittes Exemplar in den Trümmern jener entführten Maschine, die am 11. September bei Pennsylvania zum Absturz gebracht wurde.

Steuerungsinstrument der Attentäter

Obwohl das Dokument also längst bekannt ist, und auch früh publiziert wurde, ließ doch die inhaltliche Auseinandersetzung damit zu wünschen übrig. In Deutschland druckte der "Spiegel" den Text im Jahr 2001 ab.
Und er ist auch in Cordt Schnibbens und Stefan Austs Buch über den 11. September zu finden, das im folgenden Jahr auf den Markt kam. Dass dem Dokument aber keine besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde, zeigt die Tatsache, dass seine Seiten in falscher Reihenfolge wiedergeben wurden, ein Fehler, den auch eine spätere Neuauflage bei DTV zu beheben versäumte.

Es ist einem von Hans G. Kippenberg und Tilman Seidensticker herausgegebenen Band zu verdanken, dass die "Geistliche Anleitung" nun erstmals einer ausführlichen und differenzierten Analyse unterzogen worden ist. Die dort vertretenen Politik-, Islam- und Religionswissenschaftler stellen eine Vielzahl historischer und philologischer Bezüge her, die verständlich machen, wie dieser Text als ein genau kalkuliertes Steuerungsinstrument der Attentäter funktionieren konnte.

Wie also der Ablauf des Attentats von der vorausgegangenen Nacht bis zum Besteigen des Taxis, der Ankunft auf dem Flughafen und dem Verhalten an Bord der Maschinen bis ins Detail ideologisch und religiös begründet und gestützt wurde.

Spiritueller Masterplan

Die "Geistliche Anleitung" war das Drehbuch des Attentats . Den Terroristen sollte jeder noch so kleine Schritt als Teil einer heiligen Tat, als Ausführung eines spirituellen Masterplans plausibel gemacht werden, der seine Referenz in einer frühislamischen Schlacht und den Taten des Propheten Mohammed hat.

So sollten die Täter zu innerer Ruhe und Furchtlosigkeit, zu unbedingtem Gehorsam und absoluter Gefühllosigkeit im Moment des Tötens gebracht werden. Der Text nimmt die einzelnen Stationen des Tathergangs vorweg und schreibt das litaneienhafte Rezitieren von speziellen Koranversen für die Attentäter vor.

Einen historischen Vorläufer hat diese Textsorte in massenhaft überlieferten arabisch-türkischen Handschriften aus den Türkenkriegen. In diesen Schriften wurden solche Gebete gleichsam strategisch zum Zweck der seelsorgerischen Betreuung des türkischen Heeres eingesetzt.

Kein Wort vom tödlichen Ausgang der Mission

Dem Autor der "Geistlichen Anleitung" war sich bewusst, wie groß der Überwindungsakt und der psychische Druck war, unter dem die Attentäter standen. Er zog daraus die Konsequenz, die "Mission" in eine Vielzahl von Einzelschritten zu atomisieren.

Die Tat wird also nicht in ihrer Gänze ins Auge gefasst und der tödliche Ausgang wird vollkommen ausgespart. Vielmehr wird der Hergang in eine Serie von Abläufen zerlegt, die niemals mehr als wenige Minuten dauern. Jeder einzelne von ihnen ist mit einer religiösen Bedeutung aufgeladen, an die sich der Täter halten kann.

Am Anfang der Anleitung findet sich eine Schwurverbrüderung, die einen Männerbund ("futuwa") herstellen soll, nach dessen Muster sich in der Geschichte auch islamische Gruppen wie die ägyptischen Muslim-Brüderschaft zusammengeschweißt haben.

Der Text sieht vor, "untereinander einen Treueeid zu sterben zu treffen". Auch soll die "Intention" erneuert werden. Die "Intention" ist eine fundamentale Kategorie des islamischen Rechts. Es geht, wie es im Text heißt, um die innerliche Vergewisserung, "dass alles, was man tut, nur für Gott ist".

Neuinszenierung eines alten Musters

Hans G. Kippenberg legt schlüssig dar, wie diese rituelle Vorbereitung als spezifisches Übergangsritual verstanden werden kann, wie es auch aus anderen, nicht-islamischen Kulturen bezeugt und unter dem Begriff "rites des passages" zu einer kulturanthropologischen Kategorie geworden ist.

Die "Geistliche Anleitung", sagt Kippenberg, "leitet zu einer Verwandlung dieser Art an. Der junge Muslim wird von der Welt alltäglicher Normen getrennt, bricht mit der geltenden Rechtsordnung und wird zu einem Kämpfer in der Armee des Propheten. Die Gewalttaten des 11. September 2001 sind als Neuinszenierungen eines alten Musters der gewaltsamen Durchsetzung des Islam konzipiert worden."

Denn bis ins kleinste Detail gibt sich die "Geistliche Anleitung" den Anschein, in der Tradition des Korans zu stehen. Sie vermittelt den Terroristen damit das Gefühl, als Wiedergänger des großen Propheten aufzutreten.

Da von Mohammed überliefert ist, dass er seine getöteten Feinde ausgeplündert haben soll, hält der Text die Kidnapper dazu an, im Cockpit des Flugzeugs eine symbolische Beute zu machen, und wenn es sich dabei nur um ein Glas Wasser handeln sollte.

Zugleich werden sie aber auch für den Fall entschuldigt, dass sich solche Vorkehrungen als undurchführbar herausstellen sollten. Zur pragmatischen Strategie des Papiers gehören hier Sätze wie "Das unbedingt Verbindliche soll dem Brauch übergeordnet sein."

Selbstmord ist im Islam eine Sünde

Wenn die "Geistliche Anleitung" die Terroristen dazu anhält, Gott zu bitten, "dir das Märtyrertum (shahada) zu verleihen", dann trägt das dem Umstand Rechnung, dass ein Selbstmordattentat im Islam keineswegs eine allgemein gebilligte Handlung ist – auch nicht im Dschihad.

Im Vorfeld der Attentate wurde also mitbedacht, dass der Selbstmord vielmehr als schwere Sünde gilt, und dass gerade überzeugte Muslime wissen, dass sie dadurch Gefahr laufen, nicht nur auf die versprochenen Jungfrauen im Paradies verzichten zu müssen, sondern geradewegs in die Hölle zu fahren.

In der Reaktion auf den 11. September zeigte sich, dass die Terroristen um Mohammed Atta keineswegs allgemein als Märtyrer anerkannt wurden – noch nicht einmal unter erzkonservativen Islamisten.

Während Angehörige des niederen Klerus teilweise bereit waren, dieser Auslegung zuzustimmen, kam etwa der libanesische geistliche Schiitenführer Ayatollah Fadlallah zu einem anderen Schluss. Er, der Hisbollah-Kämpfern im Jahr 1983 noch den gottgefälligen Kampf im Dschihad und den anschließenden Einzug im Paradies zugestanden hatte, stellte den Terroristen vom 11. September ein anderes Zeugnis aus: "Nein, sie sind nicht im Dschihad, dem 'Heiligen Krieg' gefallen. Sie sind schlicht Selbstmörder" befand Fadlallah in einem Interview mit dem "Spiegel".

Moderne Phänomene

Der Streit darüber, ob die Gewalt des 11. September auf einem religiösen Fundament fußt oder nicht, führt aber laut Kippenberg in die Irre. Die Terroristen verstanden ihre Tat zweifellos als heiligen Akt – auch wenn sie sich damit den Widerspruch der überwiegenden Zahl von Muslimen und islamischen Klerikern zugezogen haben.

Dass es fundamentalistischen Terroristen gelingt, ihre Anhänger mit einer spezifischen Lesart des Korans und einer eklektizistischen Lesart islamischer Traditionen und kultischer Praktiken zu überzeugen, hat wohl auch damit zu tun, dass die Religionsvermittlung im Islam weniger hierarchisch organisiert als etwa in den christlichen Kirchen.

Vollständig professionalisiert ist im Islam nicht die Exegese, sondern nur die Rechtstradition. Der Verfasser der "Geistlichen Anleitung" lässt keinen Zweifel daran, dass er selbst nur ein religiöser Laie ist: "Wisst, dass die beste Rezitation die des heiligen Korans ist", heißt es im Text. "Soweit ich weiß, gibt es dazu eine Übereinkunft der religiösen Gelehrten."

Was kann man daraus schließen? Jedenfalls nicht, dass der Islam eine per se gefährliche oder militante Religion ist. Gefährlich sind relativ neue und extreme Varianten islamischer Gruppenbildung, wie sie unter den Bezeichnungen Al Qaida, Hisbollah, Hamas oder Muslim-Brüderschaft anzutreffen sind.

Diese sind, laut Kippenberg, wohl vor allem als ein Modernisierungsphänomen und vor dem Hintergrund einer Globalisierung zu verstehen, "die den Gesetzen des Marktes Vorrang vor politischer Gemeinschaftlichkeit einräumt". So werde die soziale Verantwortung von der Ebene des Staates auf Religionsgemeinschaften verlagert.

Ronald Düker

© Ronald Düker, 2005

Hans G. Kippenberg, Tilman Seidensticker (Hg.): Terror im Dienste Gottes. Die "Geistliche Anleitung" der Attentäter des 11. September. Campus-Verlag 2004, 128 Seiten, 14,90 Euro