Das lange Warten auf die Flucht nach Europa

Seit dem Ansturm afrikanischer Flüchtlinge auf die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla ist das Schicksal der Immigranten ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Alfred Hackensberger sprach mit Frederico Barroela von "Ärzte ohne Grenzen"

Seit zwei Jahren arbeitet die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in verschiedenen Regionen Marokkos ausschließlich mit Immigranten aus der Subsahara-Zone. Neben dem Zentralbüro in der Hauptstadt Rabat, das Frederico Barroela leitet, werden Projekte in Nador, nahe der spanischen Exklave Melilla, in Oujda an der algerischen Grenze und schließlich in Tanger unterhalten.

Vor kurzem veröffentlichte die Organisation einen Bericht über "Gewalt und Immigration", der für große Aufmerksamkeit sorgte. Die meisten Verletzungen der Immigranten, die behandelt werden müssten, rührten von Gewaltanwendungen her, begangen von der marokkanischen (52%) und spanischen Polizei (15%), heißt es darin.

Anfang Oktober waren Sie im Süden von Marokko, um die Lebensbedingungen von Immigranten zu überprüfen, die man in einer Militärkaserne internierte.

Frederico Barroela: Drei Tage haben wir vergeblich vor dem Kasernentor gewartet. Es ist einfach unglaublich, wir bekamen keinen Zugang zu den rund 1500 Flüchtlingen, die drei Tage lang in Bussen unterwegs gewesen waren.

Wir wollten doch nur den Gesundheitszustand und die Unterbringung überprüfen. Wir sind als professionelle Organisation bekannt, haben uns um diese Menschen seit zwei Jahren gekümmert und haben ein Recht, sie zu sehen. Aber objektive Beobachter wollen die Behörden nicht.

Marokko hat wahrscheinlich genug nach all den negativen Meldungen von inhumaner Behandlung und Gewalt gegen Immigranten.

Barroela: Das ist gut möglich, aber am Ende machen sie alles nur noch schlimmer.

Woher kamen die Immigranten in diesem Internierungslager?

Barroela: Das waren Immigranten, die Spanien nach Marokko zurück deportiert hatte, und außerdem all diejenigen, die Marokko in den letzten Wochen an der Grenze und in der Umgebung von Ceuta und Melilla verhaftet hatte. Es gab eine Art Sammeltransport, den man in der Militärkaserne zwischenlagerte.

Was macht man mit den Immigranten dort?

Barroela: Sie werden in ihre Heimatländer ausgeflogen.

Es dürfte nicht ganz einfach sein, alle Nationalitäten herauszufinden.

Barroela: Bestimmt sind es fünf oder sechs verschiedene Nationalitäten. Aber diplomatische Vertreter der betroffenen Länder sind gekommen und sortierten ihre Staatsangehörigen aus. Dann ging es offensichtlich per Flugzeuge zurück nach Mali, Nigeria, Senegal oder Guinea. Jedenfalls wurden laufend Leute in Bussen weggebracht.

Ich nehme an, die Botschaftsvertreter sind notwendig, weil viele Immigranten ohne ihre Pässe kommen, um dadurch zu vermeiden, zurückgeschickt zu werden.

Barroela: Wissen Sie, wir fragen nicht nach dem Pass. Wir behandeln unsere Patienten, und damit hat es sich. Wir bieten den Immigranten aus der Subsahara-Zone medizinische Versorgung an, da sie als Illegale keinen Zugang zum marokkanischen Gesundheitswesen haben. Der Rest ist uns egal.

Gibt es denn so viele Flüchtlinge im Raum Tanger, dass das den Unterhalt einer Praxis nötig macht?

Barroela: Es dürften so zwischen 1000 und 1500 Menschen sein. Das schwankt und ist saisonal bedingt. Im Sommer sind es mehr als im Winter, wo das Meer stürmisch ist und nur sehr, sehr wenige Boote die Überfahrt nach Spanien wagen.

Aber im letzten Jahr wurden es mehr und mehr. Durch die verstärkten Kontrollen auf beiden Seiten ist es immer schwieriger, die Meerenge zu überqueren. Die Immigranten sitzen fest und werden dadurch immer mehr. Die Zahlen hängen auch von den Polizeirazzien ab und davon, wie viele verhaftet und nach Oujda deportiert werden und wie viele wieder nach Tanger zurückkommen.

Arbeitet "Ärzte ohne Grenzen" auch auf der algerischen Seite? Dort soll es ja mittlerweile auch Camps mit rund 3000 Immigranten geben, die dort - von der marokkanischen Polizei unbehelligt - darauf warten, dass sich die Lage beruhigt.

Barroela: Nein, bisher haben wir auf algerischer Seite nicht gearbeitet. Die Probleme gab es ausschließlich in Marokko.

In der medizinischen Praxis können Sie in der Regel nur Erste Hilfe leisten. Was machen Sie mit schwierigeren Fällen?

Barroela: Die Patienten, die wir nicht behandeln können, bringen wir in marokkanischen Krankenhäusern unter.

Gelingt das ohne Probleme? Marokkaner haben oft sehr große Schwierigkeiten, ohne Geld die entsprechende Behandlung zu bekommen.

Barroela: Ersten ist das eine Frage der medizinischen Ethik. Jeder Arzt muss einen Patienten, der verwundet ist, behandeln. Außerdem liefern wir die Medikamente und das Material.

Sie haben auch die Immigranten betreut, die sich in den Wäldern in der Nähe von Ceuta versteckt haben.

Barroela: Das waren katastrophale Zustände. Die Leute hausten da unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ohne ausreichend Wasser und Verpflegung. Hauptnahrungsmittel ist Reis, viele sind daher schlecht ernährt. Mitten im Wald kommen auch viele Kinder zur Welt. In meiner Zeit dürften es rund 40 Babys gewesen sein.

Welchen Einfluss haben die Ereignisse in Ceuta und Melilla, wo elf Menschen beim Sturm auf die Grenze getötet wurden?

Barroela: Das hat vieles verändert. Früher standen die Immigranten immer mal wieder im Rampenlicht und danach ging alles wie gehabt weiter. Jetzt ist es damit vorbei. Niemand kann sich mehr verstecken und darauf warten, dass sich die Lage wieder beruhigt.

Hat das etwas mit den verbesserten Beziehungen zwischen Marokko und Spanien zu tun? Früher konnte die marokkanische Polizei einfach wegsehen.

Barroela: Das ist sicherlich richtig, aber jetzt ist es nicht mehr ein Problem von Spanien und Marokko. Es ist jetzt ein europäisches Problem. Ceuta und Melilla gehören zum Schengen-Territorium.

Warum haben die Immigranten erst jetzt diese beiden spanischen Exklaven als Fluchtmöglichkeit entdeckt?

Barroela: Der Druck hat sich erhöht. Es gibt weniger Chancen, mit dem Boot rüber zu kommen, und gleichzeitig mehr Polizeikontrollen in Marokko. Die Flüchtlinge sind monatelang nicht zur Ruhe gekommen.

Sie wurden Opfer von Gewalt und polizeilicher Willkür, was in unserem neuesten Bericht ausführlich dargestellt wird. Die Gewalt gegen Immigranten stieg im letzten Jahr deutlich an. Der Großteil der medizinischen Behandlungen war nötig, weil Immigranten Opfer von Gewalt geworden waren.

Ein Zeichen der Zuspitzung von Gewalt sind die Toten an der Grenze der letzten Wochen.

Barroela: Vier wurden ganz sicher von der marokkanischen Polizei erschossen. Dies sei ein Akt der Selbstverteidigung gewesen, wurde behauptet.

Was sollten die marokkanischen Behörden Ihrer Meinung nach tun? Marokko ist ein armes Land, für das die Aufnahme von Tausenden von Flüchtlingen kein leichtes Unterfangen darstellt.

Barroela: Ich kann nicht sagen, was die marokkanische Regierung zu tun oder zu lassen hat. Aber man muss die Flüchtlinge als menschliche Wesen behandeln und zwar mit allem Respekt. Wir haben es hier mit einem menschlichen Drama zu tun.

Die wenigsten der Flüchtlinge sind politisch Verfolgte oder kommen aus Kriegsgebieten. Kann man zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und politischen Flüchtlingen unterscheiden?

Barroela: Wir sollten uns an die Fakten halten. Die Menschen sitzen hier fest, sind Opfer von Gewalt und führen ein miserables Leben. Das muss man vor Augen haben. Sie sehen in ihrem Land keine Zukunft, deshalb sind sie hier. Das ist eben das Bezeichnende an Immigration: Die Leute gehen in andere Länder, um ein besseres Leben zu haben.

Vor einigen Wochen hat ein Team Ihrer Organisation rund 500 Flüchtlinge in der Wüste gefunden, die von der marokkanischen Polizei ausgesetzt worden waren.

Barroela: Ja, man hat sie in Oujda in Busse verfrachtet und nach neun Stunden Fahrt in Richtung Wüste einfach in der Nähe der algerischen Grenze ausgesetzt. So etwas ist inakzeptabel. Unter ihnen waren viele, die sich beim Sturm auf den Grenzzaun in Ceuta oder Melilla verletzt hatten, auch Frauen und Kinder. Das geht nicht. Wenn man diese Menschen deportiert, dann wenigstens in ihre Heimatländer.

Interview: Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2005

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