Musikalische Drehscheibe Paris

Spätestens seit den 90er Jahren hat die algerische Rai-Musik ihren Siegeszug auch in Europa angetreten. Viele ihrer Stars leben heute vor allem im französischen Exil, wo sie den Rai für ihre Fangemeinde in Nordafrika und in aller Welt produzieren. Von Daniel Bax

الكاتبة ، الكاتب: Daniel Bax

 ​​Es begann in Bobigny. Fast zwanzig Jahre ist es her, dass im Januar 1986 in diesem Arbeiter-Vorort von Paris das erste Rai-Festival auf französischem Boden statt fand. Auf dem Programm standen fast alle großen Namen jener Zeit, vom "König des Rai" Cheb Khaled bis zu Cheika Remitti, der Großmutter des Genres, vom damaligen Traumpaar Chaba Fadela und Cheb Sahraoui bis zur angesagten Rai-Rockband "Raina Rai".

Das Publikum setzte sich vorwiegend aus maghrebinischen Immigranten zusammen, unter die sich jedoch zahlreiche französische Journalisten mischten. Sie trugen die Botschaft von der Ankunft des Rai in Europa ins ganze Land hinaus.

Aufbegehren gegen überholte Moralvorstellungen

CD-Cover 'Ya-Rayi'
Gilt bis heute immer noch als der "König des Rai" - Khaled

Zu jener Zeit hatte sich in Frankreich bereits herumgesprochen, welche musikalische Revolte in der ehemaligen Kolonie gärte, die erst 1961 in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Die Rai-Musik war im Algerien der Achtzigerjahre zur Stimme einer Generation avanciert, die gegen etablierte Autoritäten und einen überkommenen Moralkodex aufbegehrte. Den Hütern der Tradition und des guten Geschmacks galten die Texte der Rai-Sänger, die ihr Herz auf der Zunge trugen, zwar als unmoralisch und vulgär, und die offiziellen Medien sperrten sich gegen diese Musik, die dafür auf billig produzierten Kassetten tausendfach Verbreitung fand.

Doch als der Erfolg der Rai-Musik unübersehbar war, beugte sich auch der algerische Staat dieser Entwicklung, und ließ im Sommer 1985 das erste offizielleRai-Festival in Oran zu. Die Hafenstadt gilt nicht nur als Wiege des Genres, sie hat auch dessen größten Star hervor gebracht: Cheb Khaled, der sich auf jenem legendären Festival seinen Ruf als "König des Rai" erspielte. Rai-Pop-Ikone Cheb Khaled Es sollte jedoch bis in die Neunzigerjahre dauern, bis sich dieser Ruf auch im Ausland verbreitete. 1991 unterschrieb Khaled einen Vertrag beim französischen Majorlabel Barclay, der Tochterfirma eines internationalen Plattenkonzerns, und legte damit den Grundstein für seine weltweite Karriere. Die Vorsilbe Cheb ("der junge"), das Erkennungsmerkmal der jungen Rai-Sänger, legte er ab, und eignete sich stattdessen einen westlichen Pop-Sound an.

Die Zusammenarbeit mit dem US-Produzenten Don Was, der schon die Rolling Stones oder Tina Turner mit einem zeitgemäßen Dance-Funk versehen hatte, erwies sich als Glücksgriff: Der Gassenhauer "Didi", mit einem fetten Bass-Groove unterlegt, ging um die Welt, und geriet zur Blaupause eines modernen Rai-Pop, der das beste aus beiden Welten verband: Den mitreißenden arabischen Gesang und das Charisma eines algerischen Rai-Stars mit den aktuellen Beats und der klangtechnischen Finesse einer westlichen Studio-Produktion. Khaleds durchschlagender Erfolg im Ausland bestärkte auch andere Rai-Stars, ihr Glück in Frankreich zu versuchen. Hinzu kam, dass die Lage in Algerien zusehends außer Kontrolle geriet.

Nach der Annullierung der Wahlen von 1992, mit der das Militär die Islamisten von der FIS von einer Machtübernahme abhielt, schlitterte das Land langsam, aber sicher in einen langen, blutigen Bürgerkrieg, in dessen Folge auch viele Rai-Musiker die Flucht über das Mittelmeer antraten. Andere Sänger füllten die Lücke, die dieser Exodus hinterließ, doch ihre Lage war prekär: Im September 1994 wurde in Algerien der Sänger Cheb Hasni erschossen, der allein durch schwülstige Liebeslieder hervor getreten war, wenige Monate später der legendäre Produzent Rachid Baba Ahmed, der die Karrieren vieler Rai-Stars angestoßen hatte.

Auswanderung ins französische Exil

Der Umzug nach Frankreich versprach vielen Musikern da nicht nur Sicherheit, sondern sogar Glamour und Geld: Khaled hatte es ja vorgemacht, und mit seiner Ballade "Aicha" den eigenen Erfolg noch einmal überboten. Der schwelgerische Rai-Chanson, vom französischen Starproduzenten Jean-Jaques Goldman komponiert, avancierte 1998 zum größten Hit des schnurrbärtigen Sängers, der damit endgültig in die erste Liga der französischen Popstars aufschloss. Khaled glückte damit, was andere vor ihm schon vergeblich versucht hatte: Zum ersten Weltstar des Genres aufzusteigen.

Dabei hätten zunächst viele eher Cheb Mami diese Karriere zugetraut, galt er doch als Glückskind, seit er mit 14 Jahren in Algerien an einem TV-Talentwettbewerb teilgenommen und dadurch berühmt geworden war. Schon früh versuchte Cheb Mami, auch außerhalb seines Landes Fuß zu fassen: Als erster Rai-Star zog er schon 1985 nach Frankreich, als erster produzierte er ein Album im Ausland.

Doch "Let Me Rai", das 1990 in Los Angeles entstand, blieb jener durchschlagende Erfolg verwehrt, der Khaled auf Anhieb vergönnt war. Und auch mit seinen späteren Alben, so gut sie auch sein mochten, blieb Cheb Mami stets im Schatten des Rai-Monarchen. Unter der jugendlichen Migranten aus dem Maghreb und auch in der alten Heimat besitzt er zweifellos bis heute eine große Gefolgschaft.

Von Vätern, Prinzen und Königen des Rai

Seinen größten internationalen Erfolg aber feierte er bezeichnenderweise in der zweiten Reihe, indem er an der Seite von Sting zu dessen Ballade "Desert Rose" etwas orientalischen Gesang beisteuerte. Bis heute scheint es, als ob Cheb Mami dazu verdammt ist, der ewige Zweite zu bleiben, für immer auf die Rolle des Kronprinzen des Rai fest gelegt. Auch dieser Rang wird ihm allerdings inzwischen streitig gemacht. Der junge Faudel, ein Gewächs der französischen Vorstädte, gilt heute als heißester Anwärter auf den Rai-Thron, sollte Khaled diesen Platz jemals räumen.

Cheb Khaled; Foto: AP

Faudel hat sich nicht nur einen Ruf als Schwarm aller Mädchen und Schwiegermütter erworben, als Lenoardo di Caprio des Rai sozusagen. Er ist auch der erste Rai-Star, dessen Karriere vollständig "made in France" ist. Seine ersten Sporen verdiente sich Faudel auf französischen Festival-Bühnen, und mit 19 Jahren landete er mit dem Titel "Dis-Moi" seinen ersten Hit im französischen Radio. Faudel verkörpert die frankophone Nachwuchslinie des Rai, und erklärte bereits selbstbewusst: "Die Hauptstadt des Rai ist nicht mehr Oran, sondern Paris" Indem er sich dem traditionellen Rai-Stil verpflichtet fühlt, unterscheidet sich Faudel grundlegend von Rachid Taha, der wie er ebenso zur Zweiten Generation arabischer Immigranten in Frankreich zählt. Rachid Taha gilt als rebellischer Geist, seit er in den Achtzigerjahren mit der Rockband "Carte de Séjour" auf sich aufmerksam machte.

Rai-Rebell Rachid Taha

Schon der Name der Band, das französische Wort für "Aufenthaltsberechtigung", zeugte von ihrem politischen Anspruch, ebenso wie ihre Adaption des Résistance-Schlagers "Douce France", den sie mit dem rollenden R der maghrebinischen Einwanderer intonierten. In Frankreich wurde das Stück zur heimlichen Hymne der Zweiten Generation, und von der Antirassismus-Initiative "SOS Racisme" aufgegriffen. Von parteipolitischer Vereinnahmung hat sich Rachid Taha trotzdem immer fern gehalten, und sich lieber auf die Musik konzentriert: Mit seinen Solo-Alben versuchte er, arabische Klänge mit den Welten der elektronischen Musik zusammen zu führen, und arbeitete an der Symbiose von Techno und Rai. Ironischerweise hatte er seinen größten Hit jedoch, als er einen alten Evergreen aus dem Maghreb neu vertonte.

Für sein Album "Divan" verpasste er dem Schlager "Ya Rayah" von Dahmane El Herrachi aus den Sechzigerjahren ein zeitgemäßes Remake, und feierte damit von Südamerika bis zum Libanon Erfolge. So kam es, das Rachid Taha, obschon ein Außenseiter des Genres, im Herbst 1998 mit seinen beiden Kollegen Khaled und Faudel für eine Gala-Show des Rai auf der Bühne stand. Der gemeinsame Auftritt im Stadion von Bercy trug den Titel "1,2,3 Soleils", und markierte den vorläufigen Höhepunkt der Rai-Welle in Frankreich. Von 40 Musikern, darunter einem 28-köpfigen Streichorchester aus Ägypten begleitet, wurde das Gipfeltreffen der "drei Tenöre des Rai" auf Doppel-CD und DVD aufgenommen und ausgiebig vermarktet.

Seitdem ist es um die Rai-Szene in Frankreich etwas ruhiger geworden. Khaled meldete sich nach mehrjähriger Pause im Herbst 2004 mit einem neuem Album zurück, auf dem er den Bogen von der traditionellen Barmusik aus Oran bis zu jenem globalisierten Rai-Pop schlug, mit dem er berühmt wurde, und auch Rachid Taha knüpfte mit einer Cover-Version von "Rock The Casbah" der britischen Punkband The Clash an seine eigene Rock-Vergangenheit an. Doch auch wenn sich der Hype um den Rai etwas gelegt hat: Er hat seinen Platz in Frankreich gefunden.

Popularität in der gesamten arabischen Welt

Damit haben sich auch die musikalischen Gewichte in der arabischen Welt etwas verschoben. Zwar schmerzt es die Erben der hocharabischen Tradition, dass ausgerechnet die Parvenüs des Rai mit ihrem Dialekt, von dem niemand in Kairo oder Damaskus auch nur ein Wort versteht, im Westen die größten Erfolge einfahren konnten. Schließlich galt der Libanon oder Ägypten in der arabischen Welt stets als kulturell tonangebend, der Maghreb bloß als Peripherie.

Doch dass die Rai-Musik in den Charts und Discotheken des Westens reüssiert, hat auch auf den arabischen Raum zurück gestrahlt. Inzwischen sind Namen wie Khaled oder Cheb Mami auch in Ägypten und im Libanon ein Begriff. Und ein wenig haben sie mit ihrem modernen, globalisierten Pop-Sound auch die aktuellen Produktionen der anderen arabischen Popstars in der Region beeinflusst. Denn die orientieren sich am Westen, wenn sie nach neuen Trends Ausschau halten.

Daniel Bax

© Qantara.de 2005

Der Autor ist Kulturredakteur der Tageszeitung taz