"Was ist eigentlich der Koran?"

Christoph Luxenbergs Buch zur Entstehungsgeschichte des Korans fand in der internationalen Öffentlichkeit ein großes Echo. Doch die Islamwissenschaftler bleiben skeptisch. Michael Marx fasst die Ergebnisse einer Berliner Konferenz zum Thema zusammen.

​​"Was ist eigentlich der Koran?" Mit dieser trivial anmutenden Frage beschäftigte sich die Konferenz "Historische Sondierungen und Methodologische Reflexionen zur Korangenese – Wege zur Rekonstruktion des vorkanonischen Koran" (Berlin 21.-25.1.2004). Die von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierte und vom Seminar für Semitistik und Arabistik der FU Berlin und vom Arbeitskreis Moderne und Islam des Wissenschaftskollegs zu Berlin organisierte Konferenz widmete sich dem Umfeld der Koranentstehung und unternahm den Versuch, Wege zur frühesten Textgeschichte des Korans auszuloten. Luxenbergs kontroverse Thesen waren auf der Konferenz präsent, auch wenn der Autor der "Syro-aramäischen Lesart des Koran" (Berlin 2000) selbst nicht teilnehmen konnte, dessen Hypothese zufolge der Koran auf ein in aramäisch-arabischer Mischsprache verfasstes christliches Lektionar zurückgeht.

Mit den Thesen von Patricia Crone und Michael Cook, die die Entstehung des Islam nach Südpalästina verschoben und die Verankerung in Mekka und Medina als späteren islamischen Ursprungsmythos betrachteten oder der Hypothese John Wansbroughs, der eine Redaktion des Korans für den Beginn des 9. Jahrhunderts angesetzt hatte, waren radikale Gegenentwürfe zur islamischen Textgeschichte vorgelegt worden.

Auch Günther Lülings Studie zum Urkoran, die durch eine neue englische Übersetzung erneut Aufsehen erregte, hatte eine Hypothese präsentiert, der zufolge der ursprüngliche Koran des Propheten auf judenchristlichen Strophenliedern beruhe, die der Prophet umgeschrieben habe und die dann von der späteren islamischen Tradition erneut abgewandelt worden seien.

Genannte drei Gegenentwürfe scheinen die Forschung in ein argumentatives Patt gesetzt zu haben, das die Grundlagenforschung am Koran häufig zu hemmen drohte.

Luxenberg und kein Ende

Luxenbergs Gegenthese zur islamischen Textgeschichte hat dabei im Vergleich zu den oben genannten Gegenentwürfen das stärkste Echo in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen ausgelöst. Über die Bewertung seiner Hypothesen ist man sich, wie auch die Berliner Korankonferenz zeigte, noch nicht einig.

Die öffentliche Debatte begann nach dem 11.9.2001, als die Paradiesjungfrauen (die in Luxenbergs Übersetzung des Korans nicht mehr enthalten sind) dem Thema zu großer Aufmerksamkeit verhalfen. Seitdem widmete sich eine Vielzahl von Presseartikeln dem neuen Ansatz in der Koranforschung.

Bisweilen schlägt die Rezeption des Buches unerwartete Wege ein: Eine schiitisch-theologische Fachzeitschrift im Libanon druckte die erste arabische Besprechung. Al-Hayyat at-tayyiba blieb skeptisch, sprach sich aber dafür aus, den Einfluss des Aramäischen ernst zu nehmen: Möglicherweise ließen sich durch das Aramäische koranische Ausdrücke klären – es sei deshalb wünschenswert, weitere Studien in diese Richtung zu unternehmen.

Negative Besprechungen wie die von Francois de Blois (London) und euphorische Bewertungen wie die von Claude Gilliot (Aix-enProvence) dokumentieren die uneinheitliche Bewertung von Luxenbergs Studie.

Die Kontexte der Entstehung des Islam

Angesichts dieser anhaltenden Debatte war es ein Anliegen der Berliner Konferenz, deutschsprachige Wissenschaftler zusammenzubringen, deren Fachgebiete einzelne Bestandteile im Mosaik der verschiedenen Zugänge für das Umfeld der Entstehung des Korans beinhalten.

Der Vortrag von Barbara Finster (Bamberg) zu archäologischen Ausgrabungen zeigte, dass eine christliche Präsenz in allen Teilen des vorislamischen Arabiens belegbar ist. Auch die Kaaba in Mekka kann typologisch mit äthiopischen Tempelbauten in Verbindung gebracht werden, die häufig als Kirchenbauten fungierten.

Die Kaaba ausschließlich als einen Kirchenbau zu verstehen, wäre allerdings eine übereilte Schlussfolgerung, wie Ernst-Axel Knauf (Bern) deutlich machte, der darauf hinwies, dass "heidnische" Kulte häufig als so genannte Sekundärkulte an (ursprünglich) monotheistischen Heiligtümern nachgewiesen werden können.

Auch Angaben über ein Marienbild in der Kaaba, das nach einigen islamischen Quellen dort vorhanden gewesen sei, müssen nicht als Indiz für eine christliche Präsenz im engeren Sinne gewertet werden, da altarabische Kulte in einigen Fällen christliche Elemente aufgenommen hatten.

Keine Jahiliyya

Bei der Identifizierung vermeintlich vertrauter Elemente ist generell Vorsicht geboten. Nach Francois de Blois (London) sind die im Koran erscheinenden nasâra keine orthodoxen Christen, sondern Judenchristen, die in der Spätantike an der Peripherie des byzantinischen Reiches weiter bestanden. Bei durchlässigen religiösen Grenzen dürfen christliche Faktoren bei der Entstehungsgeschichte des Korans nicht übergangen werden.

Auf der anderen Seite wäre es fatal, die Ausformung des Christentums mit den institutionalisierten Formen der byzantinischen oder koptischen Kirche zu verwechseln. Neben der Archäologie und der theologischen Einordnung der verschiedenen religiösen Gruppen war auch die linguistische Situation Thema.

Die sprachliche Situation wurde von Ernst-Axel Knauf (Bern) mit dem Begriff "funktionale Mehrsprachigkeit" charakterisiert. Bei den Nabatäern, den Ghassaniden und Lakhmiden müsse man von einer Diglossie (Zweisprachigkeit) von Arabisch und Aramäisch ausgehen.

Auch die geostrategische Situation der Halbinsel kann nach den Ausführungen von Norbert Nebes (Jena) und Mikhail Bukharin (Jena/Moskau) als relevant für die Entstehung des Islam angesetzt werden. Kulturelle Kontakte mit dem Norden und dem äthiopischen Westen sind in der vorislamischen Zeit deutlich nachzuweisen. Auch die heute entlegen erscheinenden Bereiche der Halbinsel waren an internationale Handelswege angeschlossen.

Das Wissen um die Kontexte macht deutlich, dass der islamische Ausdruck "Zeit der jahiliyya" ("Unwissenheit") irreführend sein kann, da er ein Arabien suggeriert, das einer weißen Fläche auf der Landkarte der "monotheistischen Religionen" glich.

Zurück zu den Handschriften

Für die früheste noch greifbare Textgeschichte ist eine Auswertung früher Handschriften des Korans erforderlich. Durch die Beiträge von Gerd-Rüdiger Puin (Saarbrücken) und Omar Hamdan (Haifa) wurde die Notwendigkeit deutlich, das Orthographiesystem der ältesten Handschriften zu erfassen.

Nach Meinung der Forschung geht das arabische Alphabet auf einen aramäischen Schrifttyp zurück, der in der folgenden Zeit auf die Bedürfnisse der arabischen Sprache angepasst wurde. Bis zur Orthographiereform unter al-Hajjâj bin Yûsuf (reg. 694-714) ist in den frühen Handschriften ein Schreibsystem nachweisbar, das vom heute Verwendeten abweicht.

Luxenberg auf dem Prüfstand

Die aramäisch-arabische Mehrsprachigkeit auf der Halbinsel ist für die Sprache des Korans von zentraler Bedeutung. Bei den Diskussionen schien sich dabei ein Konsens dahingehend zu ergeben, dass die Eingriffe in den Text, die Luxenberg vornimmt, im Einzelfall zu prüfen sind.

Rainer Voigt (FU Berlin) und Martin Baasten (Leiden) sprachen sich dafür aus, die Frage des Einflusses des Aramäischen auf das Arabische des Korans erneut in der Forschung aufzunehmen. Luxenbergs Methodik im gesamten wurde als unvollständig bewertet, auch wenn einzelne Emendationsvorschläge aus semitistischer Perspektive als haltbar gelten könnten.

Die Gesamtthese von einem Koran, der aus dem Aramäischen ins Arabische übersetzt wurde, schien beim bisherigen Erkenntnisstand nicht vertretbar zu sein. Da einzelne Vorschläge offenbar akzeptabel schienen, stellt sich natürlich die Frage, wie viele Einzelfälle notwendig sind, um einen Paradigmenwechsel in der Koranwissenschaft zu etablieren.

Zurück zum Text des Korans und seiner historischen Entwicklung

Angelika Neuwirth (FU Berlin) präsentierte einen Forschungsansatz, der den Koran als eine Folge von verschiedenen Diskursen versteht, die die Interaktion zwischen dem Propheten und seinen Hörern dokumentieren.

Der Koran reflektiert nach diesem Textverständnis den Verlauf einer mündlichen Kommunikation, die sich über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten erstreckte und dabei auch veränderte. Um dem Koran gerecht zu werden, müssen die sich entwickelnden Diskurse zwischen einem charismatischen Sprecher und der entstehenden Gemeinde beachtet werden.

Neuwirth warnte davor, aufgrund zu starker Skepsis (wie ihn die Ansätze von Wansbrough und Cook/Crone artikulierten) dem Text selbst und seinen verschiedenen chronologischen Schichten gar keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Auch wenn die Frage fremdsprachlicher Einflüsse sicherlich relevant sei, müsse der Korantext zunächst als solcher im Mittelpunkt stehen.

Aus den Diskussionen der Konferenz hervorgegangen, traf sich unter Leitung von Andrew Rippin (Victoria, Canada) und Angelika Neuwirth Anfang März in Berlin eine internationale Forschergruppe, um zu beraten, wie man sich der frühen Textgeschichte des Korans nähern könne.

Bisher steht ein systematischer Versuch noch aus, früheste Handschriften zusammenzutragen. Um den Text des Korans auf eine solide Grundlage zu bringen, müssten sowohl die Evidenzen aus den verschiedenen Koranhandschriften als auch die kanonischen und nicht-kanonischen Lesarten zusammengestellt werden. Das Berliner Arbeitsgespräch knüpft mit seinen Anliegen an das Projekt eines Apparatus Criticus von Bergsträsser und Pretzl an, das nach dem 2. Weltkrieg zum Erliegen kam und ein wichtiges Desiderat für die Auseinandersetzung mit dem Koran darstellt.

Michael Marx

© inamo 37, 2004

Michael Marx ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Semitistik und Arabistik der FU Berlin

Literaturangaben:

  • P. Crone / M. Cook, Hagarism. The Making of the Islamic World, Cambridge 1977
  • J. Wansbrough, Quranic Studies. Sources and Methods of Scriptural Interpretation, Oxford 1977
  • G. Lüling, A challenge to Islam for Reformation, Delhi 2003 (engl. Übers. u. Übearb. Von: G. Lüling, Über den Ur-Qur’an, Erlangen 1974)
  • Nicolai Sinai, "Auf der Suche nach der verlorenen Vorzeit: Günter Lülings apokalyptische Koranphilologie", NZZ 19.2.2004, S. 37
  • Harald Vocke, "Was meinte der Prophet", Rheinischer Merkur 40 (2003), S. 27
  • Rainer Nabielek in: Inamo 23/24 (2001)
  • M. Marx in: Inamo 33, 34 (2003)
  • "Der Fuchs und die süßen Trauben des Paradieses. Wieviel Philologie verträgt der rechte muslimische Glaube? Ein Gespräch mit dem Islamwissenschaftler und Koranübersetzer Christoph Luxenberg" und Stefan Wild, "Die Sinnlichkeit des Koran ist alles andere als dunkel", SZ 24.2.2004, S. 15
  • Râlf Ghadbân, "Ma´ânî l-qur’ân ´alâ dau’ ´ilm al-lisân" und Muhammad Hasan Zarâqit: "Mutâba´ât naqdiyya li-risâlat Krîstûf Lûksinbirgh wa-minhajihi", Al-hayyat at-tayyiba 4. Jg. Nr. 13 (Herbst / kharîf) 2003/1426, S. 307-321
  • Journal of Qur’anic Studies 5 (2003), S. 92-97
  • C. Gilliot, "Langue et Coran: une lecture syro-araméenne du Coran", Arabica 50, 3 (2003), S. 380-393
    B. Finster, "Arabien in der Spätantike, Ein Überblick über die kulturelle Situation in der Zeit von Muhammad", Archäologischer Anzeiger 1996
  • U. Rubin, "The Ka´ba: Aspects of ist Ritual Function and Position in Pre-Islamic and Early Islamic Times", JSAI 13 (1986), S. 97-131, hier S. 102
  • G. Bergsträsser, "Plan eines Apparatus Criticus zum Koran", Sitz. d. Bayer. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Abt., 1930, Heft 7