"Der Staat sollte sich um seine Muslime kümmern"

Die saudi-arabische "Welt-Versammlung Muslimischer Jugend" wird in den USA seit langem verdächtigt, den Terrorismus zu unterstützen. In einem Interview mit Peter Philipp über Muslime in Europa aber gibt sich der ehemalige Planungschef der Organisation weltoffen.

Die Muslime sollten sich in die örtlichen Gesellschaften integrieren, fordert Dr. Hamid al-Shaygi, Foto: Peter Philipp
Die Muslime sollten sich in die örtlichen Gesellschaften integrieren, fordert Dr. Hamid al-Shaygi

​​Die "Welt-Versammlung Muslimischer Jugend" (WAMY) geriet insbesondere nach dem 11. September in den USA in den Verdacht, extremistische und terroristische Aktivitäten unterstützt und gefördert zu haben, weil der Leiter der WAMY in den USA ein Cousin von Osama Bin Laden war.

Die in der saudischen Hauptstadt Riad angesiedelte Organisation ist weltweit tätig – in erster Linie bei humanitären Projekten und bei der Ausbildung und Unterstützung muslimischer Jugendlicher.

Die Verdächtigungen der USA weist die Organisation weit von sich, wie auch die Vermutung, sie wolle mit ihrer Arbeit der erzkonservativen wahabitischen Auslegung des Islam in der Welt Vorschub leisten.

Muslime sollten sich integrieren

Im Gegenteil, meint Dr. Hamid Al-Shaygi, bisheriger Planungschef der Organisation. Gerade in Europa sei es durchaus denkbar, dass der Islam andere Erscheinungsformen habe als in Saudi-Arabien oder in anderen Teilen der Welt:

"Ich denke, das ist möglich, wenn die muslimische Gesellschaft versucht, sich in die örtliche Gesellschaft zu integrieren. Die Jugend muss organisiert sein, muss unterstützt werden. Sie muss sich den örtlichen Gegebenheiten und der örtlichen Lebensart anpassen, wobei sie aber ihre Identität bewahrt".

Wie weit aber kann und darf das "Bewahren der eigenen Identität" gehen? Und wo können und dürfen Muslime Zugeständnisse machen gegenüber ihrem kulturellen Umfeld, das durch eine andere Geschichte, Kultur und Religion anders geprägt ist?

Auf die Frage, wann Muslime solche – ihrer Kultur und Religion fremden – Dinge übernehmen dürfen, gibt sich Al-Shaygi pragmatisch:

"Wenn wir es mit dem täglichen Leben zu tun haben – zum Beispiel beim Häuserkauf mit Hypotheken. Oder bei der Bedeckung des Gesichts der Frau. Oder sogar beim Wort "Jihad" und solches mehr. Diese Dinge müssen unterschiedlich sein – je nach der örtlichen Gesellschaft, weil man in Europa lebt. Wir wollen, dass die muslimische Gemeinde – wo immer sie sich befindet – ihre eigene Gesellschaft etabliert, mit ihrer eigenen Identität. Je nachdem, wo sie leben. Sagen wir, in Deutschland sollten sie deutsche Muslime sein."

Forderungen an den Staat

Al-Shaygi meint, der Staat solle sich mehr um die muslimische Minderheit kümmern und den eigenen Muslimen Dienstleistungen anbieten, damit sie sich in seiner Gesellschaft wohl und heimisch fühlten. Nur dann werde der Islam auch wirklich Teil der jeweiligen Gesellschaft:

"Wenn die Deutschen eine islamische Körperschaft einrichten würden, die die Kenntnis des Islam vermitteln würde, wie wir das wollen, und wenn sie sich um die Muslime kümmern würden – als deutsche Muslime oder französische oder als britische Muslime, wenn man ihnen helfen würde im Alltagsleben, dann bräuchten diese sich auch nicht an Saudi-Arabien wenden, um Unterstützung und Geld für ihre Projekte, ihre Moscheen und Schulen zu bekommen. Dann hätten sie ja örtliche Unterstützung. Das ist sehr wichtig für die europäischen Regierungen: Dass sie sich um ihre eigenen Menschen kümmern …"

Auch auf religiösem Gebiet sollten die europäischen Staaten ihren muslimischen Bürgern helfen und entgegen kommen. Man brauche in Europa zum Beispiel religiöse Autoritäten, die sich mit den Gegebenheiten und den Bedürfnissen der Muslime vor Ort besser auskennen.

"Lassen Sie uns unseren eigenen Mufti in Deutschland haben, der das Leben in Deutschland versteht", fordert Al-Schaygi. "Er wird seine Entscheidungen entsprechend dem Leben dort fällen. Einer aus Saudi-Arabien war doch nie im Ausland, er weiß nicht so viel über das Leben in Deutschland. Deswegen müssen wir - und ich glaube, das ist ein 'muss' und eine Aufgabe für die Europäische Gemeinschaft - in Europa Fatwa-Zentren einrichten - für das muslimische Europa – und ein College, das Lehrer hervorbringt, die auch Europäer sind und Muslime und die das Leben dort verstehen und die Botschaft besser vermitteln können als jemand – sagen wir – von der 'Al-Azhar'-Universität in Ägypten, aus Saudi-Arabien oder von sonst wo."

Rücksicht nehmen auf die Muslime

Auf den Einwand, der Staat sei für solche Aufgaben in Europa nicht zuständig, zeigt Al-Shaygi sich verständnisvoll, plädiert aber dennoch dafür, dass der Staat der noch relativ jungen muslimischen Gemeinde in Europa eine Art "Starthilfe" gebe:

"Ja ich verstehe das. Besonders, wenn man in einer säkularen Gesellschaft lebt, hat der Staat nichts mit Religion zu tun und er sollte keine bestimmte Religion unterstützen, die andere aber nicht. Aber die muslimische Gemeinde ist doch in Deutschland zum Beispiel nicht so gut etabliert wie andere Religionen – das Christentum oder das Judentum zum Beispiel. Die muslimische Gemeinde dort ist neu – in dem Sinn, dass sie keine lange Geschichte hat. Wenn wir uns die Kirche ansehen – etwa die katholische – dann hat diese eine Geschichte, hat ihre eigenen Einrichtungen, Kirchen und Schulen und so weiter. Die Muslime haben das nicht".

Der Staat solle auch Rücksicht nehmen auf die besonderen Gefühle und Empfindlichkeiten der Muslime. Selbst wenn diese nur in der Minderheit seien.

"Es ist doch so, dass die Minderheit ihre Überzeugung nicht aufzwingt", erläutert er. "Die Haltung der Muslime als Minderheit in Europa ist doch, dass sie keine Regeln erzwingen. Sie wollen auch nicht die Schulen ändern oder das Erziehungssystem. Oder das Wirtschaftssystem. Die denken gar nicht daran. Aber sie sagen: Zwingt mir nicht eine uns neue Kultur auf. Ja, ich bin Teil der Gesellschaft, ich werde mich an alle Regeln halten, aber in bestimmten Punkten – die nicht gegen das Gesetz sind – da will ich nicht, dass meine Tochter oder mein Sohn das tut. Das muss man verstehen: Wenn wir uns in der Gesellschaft wirklich integrieren und assimilieren wollen, dann brauchen wir nicht nur Toleranz, sondern, wie ich glaube, 'strategische Planung'".

Der Staat müsse also durch Planung das künftige Zusammenleben mit seinen Muslimen erleichtern. Und der Staat trage deswegen auch mehr dazu bei als die vielen Versuche, einen "Dialog der Kulturen" zu führen:

"Wie ich das sehe, ist das mehr eine politische Entscheidung als ein Dialog zwischen Glaubensrichtungen. Der Dialog zwischen Glaube, Religion und Kultur - ja – er wird Wege des Verständnisses öffnen, eines besseren Verständnisses verschiedener Religionen und Kulturen: Ich verstehe, was ihr tut und ihr versteht, was ich tue. Und das wird uns auf den Bereichen zusammenarbeiten lassen, auf denen wir übereinstimmen".

Peter Philipp

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005

Die World Assembly of Muslim Youth (WAMY) ist eine saudi-arabische Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Riad, die als solche bei den Vereinten Nationen registriert ist. Sie fördert die Aus- und Fortbildung von muslimischen Jugendlichen, und dies stets in Verbindung mit einer Unterweisung in der Lehre des Islam.

Inwieweit die WAMY tatsächlich eine NGO ist, muss bezweifelt werden. Der Präsident der WAMY, Sheikh Saleh al-Sheikh, ist der saudische Minister für Islamische Angelegenheiten.