Zähmung durch politische Einbindung

In Algerien und Marokko können sich islamistische Parteien seit mehreren Jahren am politischen Prozess beteiligen. Umgekehrt hat die Nulltoleranz-Strategie gegenüber Islamisten in Tunesien den autoritären Staat gestärkt. Von Isabelle Werenfels

In Algerien und Marokko können sich islamistische Parteien seit mehreren Jahren am politischen Prozess beteiligen. Sie sind dadurch pragmatischer und kompromissbereiter geworden. Umgekehrt hat die Nulltoleranz-Strategie gegenüber Islamisten in Tunesien den autoritären Charakter des Staats in erheblichem Ausmaß verstärkt. Von Isabelle Werenfels

Algeriens Präsident Bouteflika bei der Abstimmung zur Amnestie radikaler Islamisten vom September 2005, Foto: AP
Die algerische Erfahrung spricht dafür, dass ein Ausschluss der Islamisten, in Kombination mit einer sozioökonomisch explosiven Situation, gewaltsame Konflikte auslösen kann

​​Nach dem Wahlsieg der islamistischen Hamas in Palästina haben westliche Medien wiederholt Parallelen zum überwältigenden Wahlerfolg des islamistischen "Front islamique du salut" (FIS) in Algerien 1991 gezogen. Solche Vergleiche sind problematisch - nicht zuletzt, weil der Erfolg der Hamas im Kontext der israelischen Okkupation zu verstehen ist.

Der Hinweis auf den algerischen Fall ist aus ganz anderem Grund dennoch sinnvoll: Algerien kann als Lehrstück für verhängnisvolle Entwicklungen gelten, die aus einer fehlgeschlagenen Strategie der Unterdrückung einer islamistischen Massenbewegung resultieren. In Algerien folgten auf den Wahltriumph der Islamisten der Abbruch der Wahlen durch die Armee und das Verbot des FIS.

Die Konsequenz war ein Bürgerkrieg, der rund 150 000 Menschenleben kostete. Die algerische Führung hat inzwischen aus den Fehlern der Vergangenheit Lehren gezogen und verfolgt seit 1997 parallel zur Bekämpfung extremistischer Islamisten die selektive Einbindung von islamistischen Parteien, die sich an die Spielregeln des Regimes halten.

Sehr unterschiedliche Strategien

Ein Blick auf Algeriens Nachbarstaaten Tunesien und Marokko zeigt, wie unterschiedlich die herrschenden Eliten in den drei Maghrebstaaten auf die seit den achtziger Jahren erstarkenden islamistischen Herausforderer reagiert haben.

In Marokko optierte König Hassan II. 1997 - nicht zuletzt unter dem Eindruck der eskalierenden Gewalt in Algerien - für eine selektive Einbindung von Islamisten. Dahinter steckte das Kalkül einer Spaltung der islamistischen Szene und der "Domestizierung" des legalen Islamismus.

Legalisiert werden diejenigen islamistischen Parteien, welche die in der Verfassung verankerte doppelte Rolle des Königs als religiöses Oberhaupt und als politischer Entscheidungsträger anerkennen. Bis anhin sind dies zwei Parteien: Der "Parti de la justice et du développement" (PJD), seit 2002 die drittstärkste Partei im Parlament, und der 2005 legalisierte "al-Badil al-hadari" (Kulturalternative).

Verboten bleibt die starke islamistische Bewegung "al-Adl wal-Ihsan" (Gerechtigkeit und Wohlfahrt) - primär, weil sie die Monarchie in ihrer bestehenden Form ablehnt. Ihre Aktivitäten werden aber mehrheitlich toleriert.

Die politischen Entscheidungsträger Algeriens, vor der Wahl Bouteflikas zum Präsidenten 1999 ausschließlich Militärs, haben im Laufe des Bürgerkriegs zu einem Umgang mit islamistischen Parteien gefunden, der dem marokkanischen ähnelt.

Im Bestreben, das islamistische Spektrum zu spalten, den FIS politisch zu marginalisieren und die eigene angeschlagene Legitimität zu erhöhen, haben sie seit 1997 drei islamistische Parteien zu Wahlen zugelassen: die Partei "an-Nahda", das "Mouvement de la réforme nationale" (MRN), zurzeit die drittstärkste Partei im Parlament, sowie das "Mouvement de la société pour la paix" (MSP).

Letzteres wurde 1997 in die Regierungskoalition kooptiert und hält 5 von 41 Kabinettssitzen. Sowohl "an-Nahda" als auch das MSP waren 1991 erfolglose Konkurrenten des FIS gewesen.

Einige Individuen und Gruppen, die eine starke mobilisierende Wirkung entfalten könnten, bleiben in der Regel ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere für ehemalige Kader des FIS - selbst für diejenigen, die sich heute explizit zu demokratischen Verfahren verpflichten.

Abgleiten Tunesiens in Autoritarismus

Tunesien hat unter Präsident Ben Ali gewissermaßen den entgegengesetzten Weg gewählt. Nach einer kurzen Phase der teilweisen Einbindung von Islamisten Ende der achtziger Jahre verfolgt Ben Ali seit 1990 eine Nulltoleranz-Strategie.

Auslöser war das starke Abschneiden von unabhängigen Kandidaten aus dem Umfeld der nicht anerkannten islamistischen "Nahda"-Partei bei den Parlamentswahlen 1989. Die darauf einsetzende Welle der Repression dauert bis heute an.

In Tunesien ist keine islamistische Partei zugelassen; islamistische Akteure dürfen sich weder politisch betätigen noch zu Zwecken karitativer Tätigkeit zusammenschliessen.

Misst man den Erfolg der unterschiedlichen staatlichen Strategien gegenüber Islamisten lediglich an den staatlich gesetzten Zielen, vor allem an der Schwächung der Islamisten, so müsste man die tunesische Politik der Unterdrückung als am erfolgreichsten bezeichnen.

In Tunesien sind Islamisten von der öffentlichen Bildfläche komplett verschwunden. Sie dürften es schwer haben, sich im Untergrund neu zu organisieren.

In Marokko dagegen gewinnen islamistische Akteure weiter an Terrain; der PJD könnte 2007 durchaus als großer Sieger aus den Parlamentswahlen hervorgehen. Die algerischen Islamisten sind zwar gespaltener und damit politisch schwächer als noch vor wenigen Jahren.

Selbst bei fairen und freien Wahlen würde heute wohl keine der existierenden islamistischen Parteien gewinnen. Doch dürften diese im Verbund sehr stark abschneiden.

Legt man indessen eine differenziertere Messlatte zur Beurteilung der Einbindungs- und Unterdrückungsstrategien an und fragt auch, wie sich diese auf das Reformpotenzial des jeweiligen politischen Systems sowie auf die Absichten der islamistischen Akteure ausgewirkt haben, so ergibt sich ein komplexeres Bild.

Dabei zeigt sich auch die Kehrseite des tunesischen Erfolgs. Im Zuge des Kampfes gegen Islamisten hat sich Tunesien in den vergangenen 15 Jahren von einer potenziellen Demokratie zu einem der autoritäreren arabischen Systeme entwickelt.

Mit der Unterdrückung der Islamisten ging die generelle Beschneidung der politischen Freiheiten und Bürgerrechte aller Tunesier einher. Auch säkulare Oppositionelle haben kaum Möglichkeiten, sich zu organisieren, werden regelmäßig verhaftet und sehen sich Hetzkampagnen in den staatlichen Medien ausgesetzt.

Das tunesische Beispiel legt den Schluss nahe, dass der Ausschluss von Islamisten Demokratisierung verhindert, denn eine solche Politik bringt zwingend autoritäre Strukturen hervor und blockiert den politischen Wettbewerb.

Die algerische Erfahrung zu Beginn der neunziger Jahre spricht zudem dafür, dass ein solcher Ausschluss, in Kombination mit einer sozioökonomisch explosiven Situation, gewaltsame Konfrontationen auslösen kann.

Pragmatische Politik

Umgekehrt hat die Einbindung von Islamisten in Algerien und Marokko in zweifacher Hinsicht positive Effekte gezeitigt. Erstens haben sich die Absichten der islamistischen Parteien verändert. In ihrer Rhetorik ist die religiöse Lehre zwar nach wie vor handlungsbestimmend.

In der Praxis unterscheiden sich die legalen islamistischen Parteien indessen immer weniger von anderen Parteien: Sie handeln im politischen Alltag vor allem nach machtpolitischen Kriterien und sind zunehmend bereit, an ihren auf religiösen Werten basierenden gesellschaftspolitischen Vorstellungen Abstriche zu machen, wenn es um das nationale Interesse oder den eigenen Status geht.

So kritisieren in Marokko Kader des PJD, die noch Anfang der neunziger Jahre die Monarchie ablehnten, heute aufs schärfste die antimonarchistischen Statements des "Adl wal-Ihsan".

Hatte der PJD noch vor wenigen Jahren die Anwendung der Scharia gefordert - eine ohnehin schwammige Forderung, da unter Scharia von der Methode der Rechtsfindung bis zum Strafrecht alles verstanden werden kann -, erklärt sein Generalsekretär heute, dies sei nicht mehr höchste Priorität.

Es fällt auf, dass der PJD, der sich gerne mit der türkischen Regierungspartei vergleicht, sich da, wo er im Stadtrat dominant ist, eher für sozioökonomische als für sittlich-moralische Anliegen stark macht. Bemerkenswert ist auch, dass die Partei bei den Parlamentswahlen von 2002 vieles daransetzte, nicht allzu stark abzuschneiden.

Sie stellte daher nicht in allen Wahlkreisen Kandidaten, denn sie wollte laut ihrem Generalsekretär "den anderen Parteien keine Angst einjagen und staatliche Repressalien vermeiden".

Bei solchen Überlegungen spielen zweifellos das seit dem 11. September 2001 veränderte internationale Umfeld sowie die Anschläge von Casablanca eine Rolle. In deren Folge sah sich der PJD 2003 gezwungen, einem umstrittenen Anti-Terror-Gesetz zuzustimmen, um sich klar von islamistischen Gewalttätern abzugrenzen.

In Algerien hat das in der Regierung sitzende MSP nach anfänglichem Widerstand eine Bildungsreform weitgehend unterstützt, die auch auf die Vermittlung von universellen Werten abzielt.

Das MSP und das MRN stimmten zudem für die vom Präsidenten lancierte Charta für Versöhnung, obwohl diese Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen vorsieht, die Sicherheitskräfte während des Bürgerkriegs begangen hatten.

Mit der Unterstützung für die offizielle Anerkennung der Berbersprache als nationaler Sprache haben beide Parteien auch Toleranz gegenüber kultureller Heterogenität an den Tag gelegt.

Vielleicht das deutlichste Zeichen für Pragmatismus ist, dass führende Mitglieder des MSP nach dem Wahlsieg der Hamas die Sorge äußerten, der Westen werde dieser nicht genug Zeit geben, um zu neuen Positionen zu finden. Dass sie zu solchen finden muss, stand für diese Islamisten außer Zweifel.

Schlüssel für Reformen?

Ein zweiter Effekt der Einbindung islamistischer Parteien ist, dass diese politische Reformprozesse begünstigt. Durch die Partizipation von Islamisten sind die marokkanischen und algerischen Parlamente repräsentativer geworden.

Islamistische Parteien haben zudem ein größeres Eigeninteresse an demokratischen Verfahren als andere Parteien, weil sie in fairen und freien Wahlen mit guten Ergebnissen rechnen können. In Algerien initiierte denn auch das MRN eine Wahlrechtsreform, die auf mehr Transparenz zielt.

Ein Teil der Islamisten mag insgeheim noch immer auf die Karte "One man, one vote, one time" setzen. Doch ist bei islamistischen Parlamentariern das Bewusstsein gewachsen, dass sie sich mit gewichtigen anders denkenden Gruppen auseinandersetzen müssen und diese nicht einfach unterjochen können. Dies wird im Gespräch mit islamistischen Parlamentariern immer wieder deutlich.

Paradoxerweise deckt sich die politische Reformagenda der Islamisten inzwischen stark mit derjenigen externer Akteure, so der EU, der USA und der Bretton-Woods-Institutionen, die auf gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Transparenz und Rechenschaftspflicht pochen.

Im gesellschaftspolitischen Bereich sind die Islamisten indessen eher Bremser. In Marokko hat der PJD 2003 dem neuen progressiven Familiengesetz nur zugestimmt, weil alles andere nach den Anschlägen von Casablanca politischem Suizid gleichgekommen wäre.

Allerdings gilt auch, dass der PJD mit seinen moralischen Vorstellungen näher am Nerv der wertkonservativen Gesellschaften ist als die westlich orientierten marokkanischen Eliten.

Inwieweit Islamisten nun ein Schlüssel für Reformen sind oder nicht, ist letztlich nicht relevant für die Frage, ob sie eingebunden werden sollen. Tatsache ist, dass sie einen beachtlichen Teil der jeweiligen Bevölkerung repräsentieren.

Daher dürften die politischen Kosten ihrer Exklusion - Reformblockaden und das damit verbundene Konfliktpotenzial, vor allem bei ökonomischen Krisen - langfristig sehr hoch sein.

Isabelle Werenfels, Foto: &copy Stiftung für Wissenschaft und Politik

​​Isabelle Werenfels

© Neue Zürcher Zeitung 2006

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Qantara.de

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