Aufbruch zu neuen Ufern?

Während die türkisch-syrischen Beziehungen jüngst eine neue Dynamik erfahren haben, entfernt sich die Türkei immer deutlicher von ihrem einstigen Partner Israel. Ayşe Karabat untersucht den Wandel der türkischen Nahostpolitik.

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu; Foto: AP
Ahmet Davutoğlu, Architekt der neuen türkischen Außenpolitik: "Die strategische Zusammenarbeit zwischen Syrien und der Türkei ist eine Botschaft an die ganze Region, aber sie richtet sich gegen niemanden."</wbr>

​​Die Worte des türkischen Außenministers Ahmet Davutoğlu auf einer Pressekonferenz mit seinem syrischen Amtskollegen Walid al-Moallem waren unmissverständlich:

"Unser Motto lautet: Wir teilen ein gemeinsames Schicksal, eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Zukunft."

Abgehalten wurde die Pressekonferenz am 13. Oktober an einem Ort unweit der Grenze beider Nachbarstaaten. Der türkische und der syrische Außenminister entfernten im Anschluss an die Konferenz eine symbolische Grenzbefestigung zur feierlichen Einführung des visafreien Reiseverkehrs.

Politik der "maximalen Integration"

Davutoğlu wurde von neun Ministern begleitet, während die syrische Delegation sogar 15 Minister umfasste. Dieses hochrangig besetzte Treffen war damit auch nicht nur eine leere Geste, sondern Teil eines im letzten Monat geschlossenen Abkommens.

Das so genannte "High-Level Strategic Cooperation Council Agreement" sieht regelmäßige gemeinsame Kabinettstreffen vor und eine "maximale Integration", wie Davutoğlu es ausdrückt.

"Die türkisch-syrischen Beziehungen richten sich gegen niemanden und stehen in keiner Konkurrenz zu anderen auswärtigen Beziehungen beider Staaten", betonte er, ohne dieses "andere Land" beim Namen zu nennen. Doch viele der Teilnehmer dachten wohl unwillkürlich an Israel.

Der türkische Außenminister Davutoğlu (zweiter von links) bei einem Treffen mit Syriens Außenminister al-Moallem, dem irakischen Außenminister Zebari und dem Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, in Istanbul; Foto: AP
Außenpolitische Neuorientierung und "maximale Integration"</wbr>: Ahmet Davutoğlu bei einem Treffen mit seinem syrischen Amtskollegen, dem irakischen Außenminister und dem Generalsekretär der Arabischen Liga in Istanbul.

​​Während der 1990er Jahre, als Syrien noch dem inzwischen inhaftierten Führer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, Zuflucht gewährte, wiesen türkische Offizielle häufig darauf hin, dass sich die "strategische Verbindung zu Israel gegen kein anderes Land richte". Allerdings hatten sie doch Schwierigkeiten, die arabischen Staaten von ihrer Aufrichtigkeit zu überzeugen.

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Und inzwischen ist es an Israel, über die Politik der "maximalen Integration" besorgt zu sein, die die Türkei heute mit ihren Nachbarländern anstrebt.

Zu Beginn derselben Woche, in der die türkisch-syrischen Beziehungen im Fokus des Interesses standen, fanden auch die türkisch-israelischen ihren Weg in die Nachrichten, als eine multinationale Luftwaffenübung in der Türkei auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, nachdem die türkische Regierung Israel gebeten hatte, seine Teilnahme zurückzuziehen.

Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan sagte dazu, dass seine Regierung damit als "Sprecher des Volksgewissens" gehandelt habe und dass das türkische Volk nicht wolle, dass Israel am Manöver teilnehme.

Rückkehr der Ära der Unruhe

Die Beziehungen zwischen dem türkischen und israelischen Militär, aber auch zwischen den Geheimdiensten beider Länder waren immer sehr gut – selbst in Zeiten diplomatischer Krisen. Seit den 1990er Jahren kam es jedoch vermehrt zu Belastungen.

Diese Phase schien vorüber zu sein und viele begannen an die Worte des israelischen Premiers Benjamin Netanyahu zu glauben, der bereits 1999 davon gesprochen hatte, dass "nur der Himmel die Grenze" in den Beziehungen der beiden Länder darstelle.

Einiges deutet jedoch nun darauf hin, dass diese Ära der Unruhe zurückgekehrt ist, und dies vor allem seit den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen zwischen dem 27. Dezember 2008 und dem 18. Januar 2009.

So sagte Erdoğan während einer Podiumsdiskussion während des Weltwirtschaftsforums in Davos zum israelischen Präsidenten Shimon Peres: "Sie wissen, wie man Menschen tötet."

Erdoğan und Peres auf dem Weltwirschaftsforum in Davos; Foto: AP
"Sie wissen, wie man Menschen tötet!"</wbr> - Erdoğan am 29. Januar 2009 während einer Podiumsdiskussion auf dem Weltwirtschaftsforum gegenüber Shimon Peres

​​Israel hielt sich damals mit seinen Äußerungen zurück, ähnlich wie es das Land heute in Bezug auf die Ausladung zum Manöver tut. So gab der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak eine Anweisung heraus, in der es israelischen Offiziellen untersagt wurde, sich kritisch zur Türkei zu äußern.

"Die israelischen Beziehungen zur Türkei sind strategischer Natur und existieren seit Jahrzehnten. Trotz aller Aufs und Abs in unserem Verhältnis kommt der Türkei unverändert eine Schlüsselrolle in unserer Region zu", betonte er außerdem.

Und doch gibt es Beobachter, sowohl in Syrien wie in Israel – etwa den syrischen Journalisten Husnu Mahli und den Israeli Ephraim Inbar des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien –, die sehr wohl glauben, dass die Türkei ihre Außenpolitik grundlegend geändert hat und dass nichts so sein wird, wie zuvor.

Beide sind der Auffassung, dass es ein bloßer zeitlicher Zufall gewesen sei, dass die Absage des Luftmanövers mit dem Treffen des syrischen und türkischen Außenministers in derselben Woche zusammen fiel. Auch sind sie sich darüber einig, dass die veränderte Ausrichtung der türkischen Außenpolitik sehr viel mit der regierenden AKP zu tun hat. Uneins sind sie sich jedoch über die Bedeutung dieses Wandels.

Nach Auffassung Mahlis handelt es sich bei der Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik nur um eine kleine, und letztlich bedeutungslose Veränderung. Inbar hingegen glaubt, dass sich die Türkei "schrittweise vom Verbündeten des Westens zum Freund der Diktaturen des Nahen Ostens" entwickeln wird.

Politik oder Ideologie?

In einem "offenen Brief" rief Inbal seine türkischen Freunde und Kollegen dazu auf, "das Abrutschen der Türkei in Richtung Naher Osten zu stoppen und das Bündnis mit den an der Aufrechterhaltung der Sicherheit interessierten Partner im Westen nicht zu gefährden."

Er ist davon überzeugt, dass die Türkei unter der AKP ihren islamischen Impulsen immer mehr nachgibt und die politischen wie kulturellen Verbindungen zum Westen vernachlässigt.

Syriens Außenminister Walid al-Moallem; Foto: AP
Syriens Außenminister al-Moallem lobte die Türkei für die von ihr kurzfristig abgesagte Militärübung mit Israel: "Diese Entscheidung spiegelt die Art und Weise wider, wie die Türkei den israelischen Angriff auf den Gazastreifen sieht."</wbr>

​​Inbar unterstrich, dass die Türkei nicht nur den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, sondern auch mehrere Führer der Hamas eingeladen habe, was auf einen "möglichen Verlust der Türkei zugunsten des Islamismus" hindeute.

Laut Mahli ist dies jedoch in keiner Weise der Fall, auch wenn er einräumt, dass die AKP eine islamistische Ideologie vertritt und sensibel für das Leiden der Muslime ist.

"Seitdem die AKP an die Macht gelangt ist, steht sie Israel sehr kritisch gegenüber. Das ist aber nur natürlich, wenn man auf die Ideologie der Partei und ihrer Anhänger schaut", sagte er, fügte jedoch gleichzeitig hinzu, dass die Situation eine ganz andere wäre, wenn Israel Schritte in Richtung eines Friedens unternehme – und sei es nur mit Syrien.

Mahli erinnerte an die Vermittlungsanstrengungen der Türkei zwischen Syrien und Israel, die durch die israelische Offensive im Gazastreifen jedoch zum Ende kamen. "Die Türkei hat ihre Politik geändert, und doch bleibt ihr Ziel Frieden und Kooperation im Nahen Osten. Dasjenige Land, das hierfür Hindernisse schafft, ist nicht Syrien", meinte Mahli außerdem.

Große Chancen für alle Seiten

Auf der gemeinsamen Pressekonferenz vom 13. Oktober unterstrich Davutoğlu die Ambitionen der Türkei, Mitglied der EU zu werden, was die Europäische Union zu einem unmittelbaren Nachbarn des Nahen Ostens machen würde, genauso wie Syrien damit zu einem Nachbarn der EU würde. Er beschrieb die Situation als eine, die allen Seiten große Chancen eröffne.

Recep Tayyip Erdoğan empfängt den syrischen Präsidenten Assad in Istanbul; Foto: AP
Vom Verbündeten des Westens zum Freund der Diktaturen des Nahen Ostens? Recep Tayyip Erdoğan empfängt den syrischen Präsidenten Assad in Istanbul.

​​Bülent Aras von der "Stiftung für politische, ökonomische und soziale Forschungen" (SETA) sagte, dass eine Kooperation zwischen Syrien und der Türkei das Land näher an den Westen heranbringen würde. "Deshalb sollten Israel und die USA sich über diese Entwicklung freuen."

Aras unterstrich zugleich, dass es der Türkei darum gehe, den Status Quo im Nahen Osten zu verändern, der momentan von Stillstand gekennzeichnet sei. "Die Botschaft der Türkei ist: 'Wir können es uns nicht leisten, unsere Probleme weiterhin auf die lange Bank zu schieben; wir müssen sie lösen."'

Der Nahe Osten befände sich in einer Phase der Umgestaltung und die Türkei brächte sich in diesen Prozess durch ihre eigenen Anstrengungen zur Demokratisierung ein, aber auch durch ihre Rolle als Vermittler in dem Bemühen, Konflikte in der Region unwahrscheinlicher werden zu lassen, so Aras:

"Die Probleme des Nahen Ostens können nicht von einem Staat allein gelöst werden. Dies funktioniert nur über eine verstärkte Kooperation und dazu leistet die Türkei ihren Beitrag", meint Aras.

Unterstützung jenseits des Atlantiks

Professor Hasan Köni von der Galatasaray Universität weist darauf hin, dass die jüngsten Schritte der Türkei die Distanz zwischen Ankara und dem Westen nicht vergrößerten, sondern – im Gegenteil –mit der Politik der neuen US-Regierung voll übereinstimmten.

Den USA käme es in erster Linie darauf an, keine Probleme im Nahen Osten aufkommen zu lassen, um sich voll auf Asien konzentrieren zu können, meint Köni. Diesem Wunsch steht bisher jedoch ein wesentliches Hindernis im Wege: die kompromisslose Haltung Israels.

"Die Regierung Obama hat versucht, Israel zu neuen Vorstößen zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu bewegen, ist damit jedoch gescheitert", so Köni. "Ich denke, nun ist den USA daran gelegen, von der Position der Türkei zu profitieren. Und tatsächlich überschneiden sich hier die Interessen der USA mit denen der Türkei, die ihre Nahost-Politik neu ausrichtet."

Gleichzeitig aber gibt Köni zu Bedenken, dass die Ideologie der AKP eine gewisse Rolle spiele: "Wäre eine andere Regierung an der Macht – eine, die die früheren Positionen der Türkei repräsentierte, wäre ein Ausschluss Israels von einem militärischen Manöver kaum denkbar gewesen."

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2009

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Ayşe Karabat arbeitet als politische Korrespondentin mit dem Schwerpunkt Naher Osten für mehrere türkische Printmedien in Ankara, unter anderem für "Today's Zaman".

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