Gefühl der Machtlosigkeit

Rund zwei Jahre nach dem Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink äußern sich viele Armenier heute skeptisch über ihre Chancen auf eine rechtliche Gleichstellung in Staat und Gesellschaft. Günter Seufert fasst die Stimmung zusammen.

الكاتبة ، الكاتب: Günter Seufert

​​Nur rund 60.000 Armenier leben in Istanbul. Fast alle kommen aus Anatolien, sind Nachkommen und Enkel der Überlebenden der "Großen Katastrophe", wie die Armenier selbst die Auslöschung ihres Volkes während des Ersten Weltkriegs in Kleinasien bezeichnen. "Seitdem leiden die Armenier am Trauma des Völkermords, die Türken plagt die Paranoia des Beschuldigten", sagte dazu Hrant Dink, der türkisch-armenische Journalist, der vor zwei Jahren in Istanbul ermordet wurde.

Dink wollte die negative Beziehung überwinden, in der die beiden Völker wie in einem gemeinsamen Joch gefangen sind. Die kleine armenische Gemeinde Istanbuls trägt diese türkisch-armenische Spannung in sich. Sie sollte zum Ferment einer gemeinsamen Zukunft werden.

Dinks erfolgreicher Verständigungskurs

"Mit den Türken kann man nicht reden", meinten dennoch viele Armenier in der Diaspora. Und auch in Istanbul war Dink mit seinen Auffassungen hoffnungslos in der Minderheit. Die Schüsse eines 17jährigen Arbeitslosen, der ihn am 19. Januar 2007 hinterrücks erschoss, schienen dieser skeptischen Mehrheit recht zu geben. Doch nur vier Tage später gaben mehrere Hunderttausend Menschen Hrant Dink die letzte Ehre und riefen: "Wir alle sind Armenier!" Dinks Bemühungen um Verständigung zeigten erste Wirkung. Heute reicht dieser Prozess weit in die türkische Gesellschaft. Den Anfang machten vier

Armenische Überlebende des Genozids von 1915; Foto: AP
Armenische Überlebende des Genozids: Das Komitee für Auslandsbeziehungen des US-Repräsentantenhauses hatte im Herbst 2007 den Massenmord an den Armeniern als genozidalen Akt verurteilt.

​​ türkische Intellektuelle. Ende 2008 entschuldigten sie sich bei ihren "armenischen Brüdern" dafür, dass ihr Staat, die Vernichtung der Armenier auch 90 Jahre danach noch rechtfertigt, herunterspielt oder totschweigt. "Uns hat Hrant Dink die Hand geführt", sagt Professor Baskin Oran, der den kurzen Text mitverfasst hat. Das Militär und die Regierung sprachen sofort von einem "Vaterlandsverrat". Der Staatsanwalt ermittelte, und die großen politischen Parteien witterten ein antitürkisches Komplott. Trotzdem schlossen sich 29.000 Menschen dem für die Türkei bis dahin unerhörten Aufruf an und schrieben "unser Gewissen lässt nicht zu, dass wir das Leid unserer Brüder noch länger ignorieren".

Stimmen aus der Diaspora

In der armenischen Diaspora, in Frankreich, in den USA und selbst im fernen Australien fand die Erklärung großen Widerhall. Aus Paris schrieb der Journalist und Essayist Jean Kehayan an "die türkischen Brüder", der Mehrzahl der französischen Armenier gehe es nicht um "lächerliche Forderungen nach Land oder Entschädigung". Aus dem kalifornischen Glendale antwortete Patrick Azadian. Der armenische Journalist forderte ​​ - wie Hrant Dink - die furchtbare Vergangenheit soll die Zukunft der beiden Völker nicht ausschließlich bestimmen.

Aus Sydney in Australien meldete sich Armen Gakavian, der dort der Türkisch-Armenischen Dialoggruppe vorsteht. Er schreibt derzeit an einer unterstützenden Erklärung, in der die Armenier Australiens sich von den Morden der "ASALA", der Geheimarmee für die Befreiung Armeniens, distanzieren. Die "ASALA" hatte in den 70er Jahren bei Anschlägen auf türkische Diplomaten mehr als 60 Menschen getötet. Nur unter den Armeniern von Istanbul, wo der Öffnungsprozess begann, meldet sich heute kaum jemand zu Wort.

Die "armenischen Brüder", denen fast 30.000 Türken ihr Mitgefühl ausdrückten, bleiben still. "Ich weiß, dass jede Äußerung auf eine Antwort wartet", schreibt Karin Karakasli fast entschuldigend. Aydin Engin, ein enger Freund Hrant Dinks, der dessen Zeitung "Agos" die ersten Wochen nach dessen Tod geleitet hat, spricht aus, was viele der Unterzeichner denken: "Jetzt bräuchten wir Hrant Dink. Denn er würde erneut die richtigen Worte finden", so Engin.

Rechtliche Ausgrenzung

Bislang herrscht also Schweigen, denn die Armenier Istanbuls halten nicht viel von Politik. In Umfragen sagen nicht einmal zwei Prozent, dass sie in irgendeiner Form politisch aktiv sind. Wie soll es anders sein? Die Armenier Istanbuls fühlen sich dem Staat gegenüber machtlos. Der Staatsdienst ist ihnen - genau wie Juden und Griechen auch - noch immer nicht zugänglich, und für sehr viele Türken ist das Wort "Armenier" ein Synonym für ein Schimpfwort.

Als sich in den 70er Jahren der Krieg des Staates gegen die kurdische PKK auf dem Höhepunkt befand, bezeichnete die damalige Innenministerin Meral Aksener PKK-Führer Öcalan als "armenische Brut". Und 1955 hetzte die damalige Regierung den Istanbuler Mob zu einem Pogrom gegen Geschäfte und Privatwohnungen von Angehörigen der ethnischen Minderheiten auf.

Schon in den 30er Jahren bereitete die junge türkische Republik den bürgerlichen Schichten durch Sondersteuern massive wirtschaftliche Probleme. "Die Selbstverständlichkeit, mit der Hrant Dink sich öffentlich einmischte, hat uns jüngeren Armeniern für wenige Jahre die Republik zur Heimat werden lassen", meint Karin Karakasli. "Die Älteren jedoch haben der Sache nie getraut und nach Hrant Dinks Ermordung hat die Gemeinde sich aufs Neue eingeigelt. Heute würde jeder Zweite ausreisen, wenn er die Möglichkeiten dazu hätte."

Doch noch immer gibt es auch in Istanbul Armenier, die sich nicht mehr verstecken. Gegen Hrant Dinks Sohn Arat läuft das erste politische Verfahren. Markar Esayan hat in der Tageszeitung "Taraf" eine politische Kolumne. Hayko Bagdat ist der erste Armenier, der eine kritische Radiosendung mach. Und Rober Koptas gibt für den Verlag Aras armenische Literatur heraus. Sie alle sind sehr jung und von Hrant Dinks gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen geprägt. Im Patriarchat der Armenisch-Gregorianischen Kirche sieht es dagegen völlig anders aus: Patriarch Mesrob Mutafyan, die zweitwichtigste Stimme der türkischen Armenier, liegt seit Wochen danieder und kann sein Amt nicht mehr ausführen. Er leidet unter einem post-traumatisches Syndrom. Genauso wie Hrant Dink so ist auch Mesrob Mutafyan seit Jahren Zielscheibe von Mordrodungen, Beleidigungen und Schmähungen. Seit Jahren lebt er unter Polizeischutz.

Günter Seufert

© Qantara.de 2009

Günter Seufert arbeitet seit fast 20 Jahren als Journalist und Publizist in Istanbul. Er war dort bis 2001 Leiter des Instituts der Morgenländischen Gesellschaft.