Vorbild der muslimischen Jugendlichen in Europa

Der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan ist das Idol der Pariser Vorstädte. Er kämpft für einen modernen Islam und gegen "jüdische Intellektuelle". Die USA verweigerten ihm nun die Einreise. Von Jörg Lau

Der Versuch, mit diesem Mann in einem Café seiner Heimatstadt Genf ein ungestörtes Gespräch zu führen, ist zum Scheitern verurteilt. Junge Männer winken von der Straße, wenn sie den 42-Jährigen mit dem Dreitagebart erkennen. Sie rufen "Tariq, Tariq!" und lächeln beglückt, wenn er lässig ihren Gruß erwidert. Einer tritt heran und will einen ausgeben: "Sie waren toll im Fernsehen. Dem Innenminister haben sie es gezeigt!"

Das Objekt der Verehrung ist kein Popstar, sondern der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan. Er lehrt in Genf und Freiburg in der Schweiz, doch sein Ruhm erstreckt sich längst über die ganze französischsprachige Welt.

Dieser Tage sollte sich sein Wirkungskreis eigentlich noch einmal mächtig erweitern: Die katholische Universität Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana hatte Ramadan auf einen Lehrstuhl für Religion und Konfliktforschung berufen. Doch eine Woche vor seiner Abreise in die Vereinigten Staaten erfuhr Ramadan, dass sein Visum von der amerikanischen Heimatschutzbehörde zurückgezogen worden sei.

Aus dem Außenministerium wird angedeutet, der ungewöhnliche Schritt erfolge auf der Grundlage des Antiterrorgesetzes Patriot Act. Die brüskierte Universitätsleitung verlangt von der Bush-Regierung Beweise dafür, dass ausgerechnet der Mann, den sie als Brückenbauer zwischen dem Islam und der westlichen Welt engagieren wollte, ein Sicherheitsrisiko sein soll.

Kassetten mit seinen Reden verkaufen sich gut

Durch unermüdliches Publizieren, Reisen und Vortragen ist er zur Stimme der jungen Muslime in der Frankophonie geworden. Tariq Ramadan wuchs in einem vom politisierten Islam durchtränkten Milieu auf. Sein Großvater, der Ägypter Hassan al-Banna, hat 1928 die Muslimbrüder gegründet, das Urbild aller militanten Islamistengruppen.

Sein Vater war zugleich der Lieblingsschüler al-Bannas. Als Muslimbruder in Ägypten verfolgt, ging Said Ramadan ins Exil nach Genf, wo er das Islamische Zentrum ins Leben rief – eine westeuropäische Dependance der Bruderschaft, mit enormer Ausstrahlungskraft bis zum schwarzen US-Bürgerrechtler Malcolm X.

Tariq Ramadan bleibt dem Familienerbe treu: Auch ihm geht es um die Durchdringung von Politik und Religion. Doch er will nicht den Umsturz in einer fernen Heimat, sondern die Reform der westlichen Gesellschaft – durchaus im islamischen Geist, wie schon bei Vater und Großvater, aber auf der Grundlage von Rechtsstaat und Demokratie.

Seit Jahren tritt er mehrmals wöchentlich vor Hunderten auf und spricht über "die Zukunft des europäischen Islams". Ein Netzwerk ergebener Anhänger organisiert seine Auftritte. Die Kassetten mit seinen Reden verkaufen sich in Auflagen bis zu 60000 Stück. Ramadan ist der Held der französischen Vorstädte.

Eloquent, gebildet und selbstbewusst demonstriert er eine Haltung, die bei seiner Gemeinde ankommt, gerade weil sie die Mehrheitsgesellschaft verstört: Endlich ein Muslim, der weder als Opfer noch als Hassprediger auftritt und doch eine eigene, unverwechselbare islamische Identität propagiert.

"Wir müssen uns vom Minderwertigkeitskomplex befreien"

"Wir Muslime im Westen", sagt er, "müssen uns endlich von unserem doppelten Minderwertigkeitskomplex befreien – gegenüber der westlichen und gegenüber der islamischen Welt, die für sich beansprucht, die reine Lehre unseres Glaubens zu vertreten."

Tariq Ramadan sieht sich als Stimme einer "intellektuellen Revolution" im westlichen Islam: "Ich sage den Muslimen: Hört auf, euch als eine marginalisierte Minderheit zu sehen. Es geht nicht mehr um Integration, sondern um Partizipation. Wir müssen eine islamische Alternative anbieten."

Als der französische Innenminister Nicolas Sarkozy im vergangenen Jahr im Fernsehen über das Kopftuch debattierte, war nicht irgendein Vertreter des offiziellen Islams, sondern Tariq Ramadan sein natürlicher Gegner.

"Meine Möbel sind schon im Amerika", sagt Ramadan, und er möchte das offenbar symbolisch verstanden wissen. Für seine Anhänger ist klar, dass das Imperium kalte Füße bekommen hat: Sie haben Angst vor Tariq! Die Bush-Regierung hat wieder einmal ihre Gabe bewiesen, Verschwörungstheoretikern erstklassiges Material in die Hände zu spielen. Schon ist von einer Konspiration "jüdischer Kreise" die Rede.

Es ist nicht der erste Skandal, der sich an Tariq Ramadans öffentlichem Wirken entzündet: In Genf hat er die Aufführung von Voltaires Mahomet verhindern können, weil dieses Stück den Propheten beleidige. Über die Steinigung von Ehebrecherinnen befragt, plädierte er für ein "Moratorium" und eine "breite innerislamische Debatte", nicht für eine sofortige Abschaffung.

In der Debatte um den Irak-Krieg und den neuen islamischen Antisemitismus in Frankreich meldete er sich im Oktober 2003 mit einer "Kritik der neuen kommunitaristischen Intellektuellen" zu Wort.

Die "Affäre Ramadan"

Prominente Kriegsbefürworter wie André Glucksman wurden von Ramadan als "jüdische Intellektuelle" identifiziert, deren Engagement gegen Saddam Hussein einer "Logik der Gemeinschaft" folge. Diese jüdischen Intellektuellen, suggerierte Ramadan, schieben ihre Menschenrechtsrhetorik vor, doch in Wahrheit vertreten sie die Interessen Israels. Fragt man ihn, warum sich Glucksman dann für die bosnischen Muslime und die Tschetschenen eingesetzt habe, schaut Tariq Ramadan ein wenig ratlos.

Wochenlang wurde die "Affäre Ramadan" in den französischen Zeitungen debattiert. Nun hängt ihm der Ruch des Antisemiten an. Gut möglich, dass Ramadans verantwortungslose Tirade ihn seine Professur in Amerika gekostet hat.

Er versteht die Welt nicht mehr: Ist er nicht einer der wenigen prominenten Muslime, die sich – in der israelischen Zeitung Ha’aretz – klar gegen den Judenhass in der eigenen Glaubensgemeinschaft ausgesprochen haben? Hat er nicht Recht, sich über den "Mangel an Vertrauen im öffentlichen Diskurs" zu beschweren?

Es mangelt ihm selbst oft genug an Vertrauen: Immer wieder zeichnet er das Bild einer westlichen Gesellschaft, die bis ins Mark voller "Vorurteile, Rassismus und Islamophobie" steckt. Dass sein eigener Vater dem Westen sein Leben verdankt, während der Großvater in Ägypten vom Regime ermordet wurde, hat die Diagnose chronischen Islamhasses nicht abzumildern vermocht.

Vielleicht ist die tiefe Ambivalenz, mit der Tariq Ramadan dem Westen begegnet, ein Erbe der Familienkonstellation, vielleicht ist sie auch Taktik, um auf beiden Seiten im Gespräch zu bleiben: In seinem Werk ringt die Anerkennung von Rechtsstaat, Rationalismus und bürgerlicher Freiheit mit den alten kulturell-religiösen Überlegenheitsgefühlen.

Der Westen ist für ihn nicht, wie die Tradition sagte, das feindliche "Haus des Krieges". Er ist der "Raum der Zeugenschaft", in dem Muslime frei sind, ihren Glauben zu bezeugen. Mit einer trickreichen Unterscheidung isoliert er den "eigentlichen Islam" von allen historischen Fehlentwicklungen, die er konkreten "islamischen Kulturen" in die Schuhe schiebt.

Unterdrückung der Frau, Unfreiheit und Rückständigkeit der arabischen Welt haben mit der vom Schmutz der Geschichte gesäuberten universalistischen Lehre nichts zu tun. Man fühlt sich an ein Muster sozialistischer Apologetik erinnert.

Der Prophet und seine Anhänger als Vorläufer von Attac

Der Islam, daran besteht für Ramadans Leser kein Zweifel, ist eine sittlich höher stehende Alternative zur bestehenden Ordnung. Wenn Ramadan von Reform-Islam spricht, dann ist damit nicht so sehr die islamische Selbstkritik gemeint, sondern vielmehr Kulturkritik westlicher Dekadenz im Lichte der Offenbarung des Propheten.

Sein Auslegungsgeschick führt zu merkwürdigen Allianzen: Er schafft es, das Zinsverbot des Korans so zu erklären, dass der Prophet und seine Anhänger wie eine frühe Version der Antikapitalisten von Attac aussehen. In globalisierungskritischen Kreisen ist er gern zu Gast und wird vom Bauernrevoluzzer José Bové herzlich umarmt.

Ramadan ruft die Muslime auf, sich aus der Nische der Identitätspolitik zu wagen und das Denken "in binären Gegensätzen" aufzugeben. Zugleich verdammt er den Konsumismus und das lockere Amüsement, dem gerade die jugendlichen Immigranten zugetan sind.

Inoffizieller Sprecher des Euroislam

Das Kopftuch ist für ihn ein Zeichen, dass junge Musliminnen die "unkritische Übernahme der Moden und des Verhaltens ihrer westlichen Mitbürger" vermeiden. Der Kampf junger Iranerinnen gegen den Kopftuchzwang beweise nur, dass Druck und Gewalt der falsche Weg sind.

War also das Ziel der Ajatollahs, der Gottesstaat, aller Ehren wert, nur die Mittel ungeschickt gewählt? Nein, sagt Ramadan, er bekenne sich zum religiösen Pluralismus und propagiere nicht den Islam als Lösung. Auch kritisiert er die Entführung französischer Journalisten im Irak, deren Geiselnehmer das Ende des Kopftuchverbots an französischen Schulen fordern.

Tariq Ramadan hat es geschafft, zum inoffiziellen Sprecher eines Euro-Islams aufzusteigen, der das gebrochene Selbstbewusstsein der Diaspora hinter sich lässt und das Hier und Jetzt der westlichen Moderne als sein Wirkungsfeld akzeptiert.

Das allein ist ein Verdienst, auch wenn es keineswegs ausgemacht scheint, ob er das Etikett des liberalen Reformers zu Recht trägt. Es wäre falsch, ihn aus dem Gespräch über den langen Weg der Muslime nach Westen auszugrenzen. Es gibt nicht viele andere, die wie dieser Doppelagent des modernen Islams auf beiden Seiten Gehör finden.

Jörg Lau

© Die Zeit, 37/2004