Würdigung dreier Persönlichkeiten der islamischen Welt

Sadik Al-Azm, Fatima Mernissi und Abdolkarim Sorusch sind die diesjährigen Preisträger des niederländischen Erasmus-Preises. Martina Sabra sprach unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Nachricht mit Sadik Jalal Al-Azm, der zurzeit in Antwerpen lehrt.

Erasmus von Rotterdam
Erasmus von Rotterdam

​​"Für mich ist der Preis eine große Überraschung", sagt der 69-Jährige Sadik Al-Azm in seinem Büro in Antwerpen, und man sieht ihm die Freude an. "Ich interessiere mich sehr für das Denken der Renaissance, und ich wusste natürlich ein paar Dinge über Erasmus. Nun auf diese Weise mit ihm verbunden zu sein, ist für mich sehr angenehm."

Der Erasmus-Preis ist nach dem Nobelpreis die wichtigste kulturelle Auszeichnung in der Europäischen Union: Er wird alljährlich an eine Person oder eine Institution vergeben, die sich um die Kultur, die Gesellschaft oder die Sozialwissenschaften in Europa besonders verdient gemacht hat.

In diesem Jahr hatten sich das niederländische Königshaus und die Praemium-Erasmianum-Stiftung für das Thema "Religion und Modernität" entschieden.

Versöhnung von Islam und Moderne

"Viele Menschen fragen sich zurzeit, wie der Islam und die Moderne miteinander versöhnt werden könnten. Die Soziologin Fatima Mernissi aus Marokko, der Religionskritiker Sadik Jalal Al-Azm aus Syrien und der islamische Reformdenker Abdolkarim Sorusch aus dem Iran haben wesentlich dazu beigetragen, Modernisierungsprozesse und religiös geprägte Kulturen miteinander zu vereinbaren," begründete die Stiftung in Amsterdam ihre Entscheidung am 7. April 2004.

Die Debatten über Islam und Modernität seien auch für Europa sehr bedeutsam: "Europa wird angeregt, über sich selbst nachzudenken, und die westliche Aufklärung, die als Wiege der Modernität gilt, einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Der Westen begreift, dass Modernisierungsprozesse sich nicht immer nach dem gleichen Schema vollziehen müssen."

Auch in Europa bekannt

Die Werke von Sadik Al-Azm, Fatima Mernissi und Abdokarim Sorusch sind dank zahlreicher Übersetzungen auch in Europa zugänglich. Am bekanntesten dürfte die 1940 geborene Fatima Mernissi sein. Sie trug in den siebziger und achtziger Jahren mit ihren Büchern „Geschlecht, Ideologie, Islam“ und „Der politische Harem“ dazu bei, das westliche Klischee von der verschleierten, angeblich unterdrückten muslimischen Frau aufzubrechen.

In der islamischen Welt war Mernissi damals bereits für viele Frauen ein Vorbild: Sie forderte die Musliminnen dazu auf, sich nicht länger von den Männern beherrschen zu lassen, sondern den Islam endlich selbst zu interpretieren. Anfang der 90er Jahre stellte Mernissi den Feminismus zurück, um sich fortan hauptsächlich zwei Aktivitäten zu widmen: dem Romaneschreiben und der Stärkung der marokkanischen Zivilgesellschaft.

Schreibworkshops für Engagierte

Als Motor des Bürgersinns betrachtete Mernissi das Schreiben. Unentgeltlich leitete sie zahlreiche "ateliers d'écriture", Schreibworkshops für engagierte Frauen und Männer. Dabei ging es um unterschiedlichste Themen, die Bürgerinnen und Bürger in Marokko betreffen: ländliche Entwicklung, kultureller Pluralismus, Menschenrechte, Geschlechterbeziehungen, sexueller Missbrauch von Kindern.

Trotz ihrer Distanz blieb Fatima Mernissi eine wichtige Mentorin der marokkanischen Frauenbewegung. Und sie betonte ihre Identität als Marokkanerin und Muslimin.

Anhänger der islamischen Revolution

Von einer islamischen Position aus argumentiert auch der iranische Erasmus-Preisträger, Abdolkarim Sorusch. Geboren wurde Sorusch 1945 in Teheran als Hossein Dabbagh. Als er nach seinem Studium der Pharmazie und Philosophie in England 1979 in den Iran zurückkehrte, war er ein begeisterter Anhänger der islamischen Revolution. Ein Jahr später holte der Revolutionsführer Khomeini den islamistischen Aktivisten Soroush in den Hohen Rat für die kulturelle Revolution.

Doch das Tête-à-tête mit den Ayatollahs war von kurzer Dauer: 1982 legte Sorusch alle Ämter nieder und wurde Professor für islamische Mystik an der Universität Teheran. Seine Kritik am islamischen Klerus wurde immer schärfer, nicht zuletzt in der von ihm gegründeten kritischen Monatszeitschrift "Kiyan".

Trennung von Religion und Staat

Als er kulturellen Pluralismus und - mehr oder weniger offen - die Trennung von Religion und Staat forderte, musste Sorusch den Iran 1996 verlassen. Seit dem Jahr 2000 unterrichtet Sorusch an der Harvard-Universität in den USA Islamische Philosophie.

Im Jahr 2001/2002 war er Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Seine Ideen kursieren trotzdem im Iran: nicht nur zwischen Buchdeckeln, sondern auch auf Audiokassetten. Schätzungsweise tausend Vorträge von Soroush sollen im Iran und den Nachbarländern heimlich im Umlauf sein.

Im Gegensatz zu Abdolkarim Sorusch und Fatima Mernissi fordert Sadik Al-Azm offen die Trennung von Staat und Religion. Er definiert sich nicht als islamischer Denker. Aber: "Wir drei befinden uns im selben Lager: gegen den Obskurantismus, gegen die Verquickung von politischer Herrschaft und Religion", betont Al-Azm.

"Beim Kampf für mehr Bürgerrechte, für Frauenemanzipation, für die Demokratie im Allgemeinen, gibt es sehr verschiedene Wege. Fatima Mernissi hat ihre Methode, Sorusch seine, ich habe meine." Ihm persönlich sei es nie wichtig gewesen, den Islam von innen heraus zu reformieren, sagt Al-Azm. Doch selbstverständlich sei es von größter Bedeutung, die islamische Theologie und das islamische Recht zu modernisieren.

"Die Erde ist eine Scheibe"

"Es gibt islamische Theologen, die noch immer behaupten, die Erde sei eine Scheibe. Solche Überzeugungen sind mit der Moderne unvereinbar", schüttelt Al-Azm den Kopf. "Dasselbe gilt für bestimmte Prinzipien des islamischen Rechts: die aktive und passive Glaubensfreiheit müssen garantiert werden, ebenso wie die körperliche Unversehrtheit und die Gleichberechtigung der Frauen. Das heißt, keine Apostasievorwürfe, keine Körperstrafen und keine Zwangsverschleierung. Wenn die entsprechenden Koranpassagen nicht für alle Zeit außer Kraft gesetzt, die islamischen Rechtsvorschriften nicht annulliert werden, kann der Islam nicht Basis eines modernen Staatswesens sein, wie zum Beispiel im Irak."

Sadik Al-Azm stammt aus einer einflussreichen Politikerfamilie in Damaskus. Sein Großvater war ein hoher Staatsbeamter im Osmanischen Reich. Sein Vater bewunderte Kemal Atatürk, der in der Türkei Staat und Religion trennte. In der arabischen Welt hingegen wurde die Religion auch nach der Entkolonialisierung der fünfziger Jahre weiterhin zur Machtausübung benutzt.

Säkularität nie verwirklicht

Sadik Al-Azm schrieb dagegen an, nahm Gerichtsverfahren, Buchverbote in Kauf. Als er sich mit dem Schriftsteller Salman Rushdi gegen Khomeini solidarisierte, bekam er sogar Morddrohungen. Al-Azm ist dennoch sicher, dass auch in der islamischen Welt Aufklärung ihren Platz hat: "In der muslimischen Welt ist der de-facto-Säkularismus sehr verbreitet; vor allem in der arabischen Welt. Aber man hat nie eine säkulare Ideologie entwickelt, oder säkulare Parteien, mit eindeutig weltlichen Programmen, basierend auf einer Trennung von Staat und Religion."

Al-Azms Motto lautet in Anlehnung an den französischen Philosophen Descartes und an sein großes Vorbild, Immanuel Kant: ich denke kritisch, also bin ich. Kritisches Denken und Meinungsfreiheit sind Voraussetzungen für Entwicklung und Frieden. Doch in vielen arabischen Ländern stehen die Zeichen zurzeit nicht auf Liberalisierung, Demokratie oder Menschenrechte.

Die Türkei als Alternative

Die säkularen Ideologien sind gescheitert. Aber auch der politische Islam befindet sich im Niedergang. Linksliberale arabische Intellektuelle wie Sadik Al-Azm suchen deshalb nach Alternativen. Für Al-Azm könnte die Türkei sich zu einem Modell entwickeln. Wie demokratisch die türkischen Islamisten wirklich sind, muss sich noch zeigen.

Doch Sadik Al-Azm ist überzeugt: eine säkulare Türkei, mit einer islamisch-demokratischen Partei könnte zum Modell für den ganzen Nahen Osten werden. Sadik Al Azm: "Wenn der Westen wirklich interessiert ist, ein demokratisches islamisches Modell im Nahen Osten zu stärken, dann sollte die EU die Türkei jetzt unterstützen, sie an der Hand nehmen."

Verleihung im November

Die offizielle Verleihung des Erasmus-Preises findet voraussichtlich im November 2004 in Amsterdam statt. Der Erasmus-Preis wird seit 1958 jährlich unter dem Patronat des niederländischen Königshauses verliehen. Er würdigt Leistungen auf kulturellem und sozialem Gebiet. Frühere Preisträger waren unter anderem Karl Jaspers, Oskar Kokoschka, Martin Buber, Charles Chaplin, Amnesty International, Vaclav Havel und Peter Stein.

Martina Sabra

© Qantara.de 2004

Weitere Informationen über den Erasmuspreis (auf Englisch)
Lesen Sie auch auf Qantara.de
Interview mit Sadik al-Azm "Hoffnungsschimmer in der arabischen Welt"
Ein Portrait von Abdolkarim Sorusch "Für eine offene Lesart des Korans"
Ein Portrait von Fatima Mernissi (Englisch) "Rebel for der Sake of Women"