Religion und Gewalt

Religiös motivierte Gewalt stellt die Welt vor Herausforderungen, die man vor dem 11. September 2001 nicht kannte. Religion und Gewalt – was rät die Theologie? Volker Maria Neumann sprach mit Professor Richard Schröder vom Nationalen Ethikrat.

Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sah sich die Welt einer auch religiös motivierten Gewalt gegenüber, auf die bis heute keine schlüssige Antwort gefunden wurde. Wie erklärt sich die Theologie jenen gewaltbereiten Fundamentalismus, der in Gott (im Absoluten) seine Legitimation sucht?

Richard Schröder: Der Islamismus ist ein modernes Phänomen, nämlich eine Antwort auf gescheiterte Modernisierungsstrategien. Als Napoleon das ägyptische Heer bei den Pyramiden schlug, wurde der islamischen Welt bewusst, dass sie ihre kulturelle und technische Überlegenheit gegenüber dem Westen, die tatsächlich bis ins Hochmittelalter bestand, verloren hatte.

Also versuchte man, vom Westen zu lernen. Da aber weder die nachholende Modernisierung in Wirtschaft und Verwaltung noch der Import des Nationalismus noch der des Sozialismus die gewünschten Erfolge brachte, entstand die Gegenbewegung: keine Nachahmung des Westens, sondern Rückbesinnung aufs Eigene.

Dabei wurde auch die aus den ersten Jahrhunderten des Islam stammende Lehre der Scharia vom Heiligen Krieg (Dschihad) zur Ausbreitung des Islam wiederbelebt. Sie hatte in der Politik der islamischen Staaten, namentlich des Osmanischen Reichs, überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Die Islamisten remilitarisieren den Dschihad zum Kampf gegen die Ungläubigen zu Hause und im Westen.

Oft wird übersehen, dass die meisten Todesopfer des islamistischen Fundamentalismus Muslime sind und die meisten Muslime Terror ablehnen. Trotzdem wird bin Laden von sehr vielen als Held verehrt.

Geschichtlich Erfahrungen des Hinterherhinkens oder Nachstehens als Quelle des gewaltbereiten Islamismus?

Schröder: Deutlicher noch: Demütigungserfahrungen, die durch das Fernsehen noch verstärkt werden, dessen Filme den Eindruck von unermesslichem westlichen Luxus und sittlicher Verwahrlosung vermitteln. Trotzdem wäre es zu einfach, dem Westen die Schuld an diesen Demütigungserfahrungen vollständig zuzuschieben.

Erstens ist der Maßstab der Demütigung für die Islamisten der Anspruch auf islamische Weltherrschaft – wogegen das Neue Testament nur einen Missionsbefehl kennt. Zweitens würden die Ölmilliarden ausreichen, um mindestens die arabischen Länder zu modernisieren. Islamisten machen den Westen aber auch für die Regierungen ihrer eigenen Länder verantwortlich.

Während im Westen die Bereitschaft sehr groß ist, Schuld bei sich zu suchen, ist, wie Bassam Tibi einmal bemerkt hat, unter Muslimen die Tendenz sehr stark, Schuld bei anderen zu suchen. Für Islamisten ist an allem der Westen schuld, und sie sind bloß Opfer. Das wollen sie durch Gewalt ändern.

Tragischerweise steht jetzt schon fest, dass diese Strategie den Muslimen nichts nützen, sondern gewaltig schaden wird. Aber immer und überall sind Menschen aus verletztem Stolz zur Gewalt bereit. Übrigens: Der wichtigste Beiname Gottes im Koran ist: der Barmherzige. Auch das sollten die Islamisten bedenken.

In allen Heiligen Schriften der großen Weltreligionen spielt Gewalt eine Rolle, ob als "Kampf gegen Ungläubige", als "Heiliger Krieg" oder ähnliches. Wie schwer wiegt dieses "Gewaltpotenzial" von Religionen heute?

Schröder: Der Diskurs über Religion und Gewalt, den der 11. September 2001 ausgelöst hat, ist oft modisch kurzatmig und pauschal. Manche scheinen zu denken, ohne Religion wäre die Menschheit friedlich. Aber die großen Massenmörder des 20. Jahrhunderts, nämlich Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot, haben sich nicht mit Religion legitimiert, sondern mit Pseudowissenschaft (Rassentheorie, Theorie vom gesetzmäßigen Geschichtsablauf).

Auch der Terror der RAF hatte nichts mit Religion zu tun. In der DDR wurde uns Christen die Feindesliebe (Matth. 5,44) vorgeworfen. Wir würden uns durch die Ablehnung revolutionärer Gewalt dem Menschheitsfortschritt entgegenstellen. Eben noch wurde die gewaltlose Revolution in der DDR, an der die christlichen Kirchen einen beachtlichen Anteil hatten, gelobt, nun steht "Religion" pauschal unter Gewaltverdacht. Wer gründlich urteilen will, braucht mindestens ein gutes Gedächtnis.

Um sich an was zu erinnern?

Schröder: Es gibt sie ja, die Gewaltgeschichte des "christlichen Abendlandes". Weithin vergessen ist, dass es nicht Atheisten, sondern zuerst Christen waren, die die Kreuzzüge, die Ketzer- und Hexenverfolgung und den Gewissenszwang verurteilt haben – und nicht nur protestantische.

Die Christentumsgeschichte ist eben auch eine Geschichte christlicher Selbstkritik. Sie ist in der Aufklärung aufgenommen und fortgeführt worden. Heute ist der Johanniterorden wohltätig. Und kein einziger Kreuzritter ist je heilig gesprochen worden.

Im Koran heißt es dagegen: der Dschihad ist das Mönchtum des Islam, womit bewusst ein Unterschied zu den gewaltfreien christlichen Eremiten gemeint war, denen Mohammed hohen Respekt entgegengebracht hat. Er war aber nicht nur Religionsgründer, sondern auch Staatsgründer und Feldherr. Deshalb können sich Islamisten leicht auf entsprechende Koranstellen berufen. Sie müssen das aber nicht. Man kann die normative Kraft solcher Koranstellen auch mit Hinweis auf die besondere Situation, in der sie gesprochen wurden, relativieren.

Und die asiatischen Religionen?

Schröder: Militante Fundamentalisten mit vielen Todesopfern gibt es auch unter den Hindus. Und obwohl der Buddhismus als besonders friedfertig gilt, gibt es auch eine buddhistische Gewaltgeschichte. Auf Sri Lanka wird der Kampf gegen die Tamilen auch religiös begründet im Sinne eines Heiligen Krieges für die Buddha geweihte Insel.

Zwischen den tibetanischen Klöstern hat es Mönchskriege gegeben und die Pflege auch tödlicher Kampfsportarten im Shaolin-Kloster steht in einem buddhistischen Zusammenhang.

Vom "Gewaltpotenzial" abgesehen: Wie ist es um das "Friedenspotenzial" von Religion bestellt?

Schröder: Man darf Religionen nicht mit Computerprogrammen verwechseln, die entweder zur Gewalt oder zur Friedfertigkeit programmieren. Religionen sind Orientierungssysteme, die in verschiedenem Grade lernfähig sind und auf neue Herausforderungen auch neue Antworten finden können. Sie sind allerdings immer primär auf Binnenverständigung eingestellt. Zu jeder "Identität" gehört auch die Grenzziehung oder Abgrenzung zu anderen menschlichen Möglichkeiten.

Aber je enger die Menschen zusammenrücken, durch globale Medien und durch Wanderungen, umso intensiver muss das Zusammenleben Verschiedener gestaltet werden, zuerst immer vor Ort.

Anknüpfungspunkte für ein gedeihliches Zusammenleben Verschiedener gibt es wohl in allen großen Kulturkreisen, weil es entsprechende Erfahrungen gibt. Aber nur im westlichen Kulturkreis ist der Gedanke der Toleranz (ursprünglich: Erdulden des Andersartigen) weitergeführt worden zur Religionsfreiheit, die sowohl die Freiheit zur eigenen Religion als auch die Freiheit von der Religion einschließt.

In manchen islamischen Ländern werden der Abfall vom Islam (Apostasie) und der Atheismus nicht geduldet – wie im christlichen Mittelalter.

In der europäischen Rechtsordnung ist die Trennung von Staat und Religion fest verankert. Kann der säkulare Staat Maßstäbe setzen für die globalisierte Welt? Taugt also unsere (religions-)freiheitliche Demokratie als "Exportartikel" für nicht-säkulare Staaten?

Schröder: Ein Muslim hat mir gesagt, er bedaure, dass nicht auch im Koran ein Satz steht wie das Wort Jesu: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und gebt Gott, was Gottes ist" (Matth. 22,21). Früher war der Kalif der "Herrscher der Gläubigen", sozusagen Kaiser und Papst in einer Person. Es gibt aber seit der Abdankung des letzten Osmanenherrschers gar keinen Kalif mehr.

Es gibt auch in der islamischen Geschichte sehr oft die faktische Unterscheidung von weltlicher (Sultan) und geistlicher Autorität. Man könnte also die Sachlage folgendermaßen beschreiben: In der Geschichte des Christentums gab es vielfältige Verbindungen von Thron und Altar, aber immer wieder meldeten sich Stimmen, die sagten: Das soll so nicht sein.

In der islamischen Welt gab es immer wieder die faktische Unterscheidung von politischer und religiöser Autorität, aber immer wieder melden sich Stimmen, die sagen: Das soll so nicht sein. Heute sagen das die Islamisten: "Staat und Religion sind eines". Im Osmanischen Reich war eine weitgehende religiöse Toleranz praktiziert worden, auch für Christen. Erst im ersten Weltkrieg kam es zum Genozid an den armenischen Christen, als Vorbote des türkischen Nationalismus.

Man kann also nicht sagen, dass die Unterscheidung von Staat und Religion der islamischen Welt fremd sei. Ob unsere Form von Demokratie sich als Exportartikel für alle Länder eignet, kann dahingestellt bleiben. Dass aber die staatsbürgerlichen Rechte nicht an die Religionszugehörigkeit gebunden sind, ist eine unabdingbare Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben in allen Staaten.

Trotz Jeffersons "Wall of Separation" ist derzeit in den USA eine "neue Nähe" zwischen Religion und Politik nicht zu übersehen. Erkennen Sie hierin eine nachhaltige Gefahr für die amerikanische Rechtsordnung oder glauben Sie, beim nächsten Präsidenten ist alles wieder anders?

Schröder: Die "Trennung von Staat und Kirche" kann sehr Verschiedenes bedeuten. In den sozialistischen Ländern zum Beispiel sollte sie das Absterben der Religion befördern und lief auf eine Benachteiligung der Christen in Gesellschaft und Staat hinaus. In den USA sollte sie ein ungestörtes Leben der Religionen – gemeint waren hier zunächst nur die christlichen Konfessionen – ermöglichen, denn viele Einwanderer waren aus religiösen Gründen aus Europa ausgewandert.

Schon Karl Marx hatte mit Erstaunen wahrgenommen, dass in den USA die Religionsfreiheit nicht die Freiheit von der Religion befördert, sondern eine christliche Gesellschaft ermöglicht. Außerdem gibt es in den USA eine "Zivilreligion". Auf jeder Dollarnote steht "Auf Gott vertauen wir" und bisher hat jeder Präsident gesagt: "Gott segne Amerika." Neu ist nur, dass die "Christliche Rechte", also keineswegs alle amerikanischen Christen, die Konservativen massiv unterstützt hat. Das wird sich wahrscheinlich so nicht fortsetzen.

Es beruht auf Unkenntnis der amerikanischen Verhältnisse, wenn die Politik von Bush junior vorrangig damit erklärt wird, dass er sich als bekehrter Christ versteht. Der Irakkrieg gehörte nicht zu den Forderungen der Christlichen Rechten und ist auch schon von der Regierung Clintons in Erwägung gezogen worden.

Die einzige außenpolitische Forderung aus diesem Milieu, nämlich ein Israel in biblischen Grenzen, also einschließlich des Ostjordanlandes, hat Bush nun gerade nicht erfüllt, als er sich für einen Palästinenserstaat im Westjordanland und im Gazastreifen aussprach.

Volker Maria Neumann

© Goethe-Institut 2007

Prof. Dr. theol. Dr. h.c. Richard Schröder war Pfarrer in Wiederstedt im Harz, 1991 bekam er seine bekam seine Lehrtätigkeit Richard Schröder an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. 1991 wurde er Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1993 erfolgte die Berufung zum Professor auf den Lehrstuhl für Philosophie in Verbindung mit Systematischer Theologie in Berlin. Seit 1993 ist Richard Schröder Verfassungsrichter des Landes Brandenburg. Seine Berufung in den Nationalen Ethikrat erfolgte 2001.

Qantara.de

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