Hunger, Folter, Bomben: Zustände in libyschen Flüchtlingslagern schockierend

Hunger, Zwangsarbeit, Folter: Die Zustände in libyschen Flüchtlingslagern sind schockierend. Nach dem Luftangriff auf ein Lager nahe der Hauptstadt Tripolis mit mehr als 50 Toten Anfang Juli haben Hilfsorganisationen ihre Kritik noch einmal verschärft - und die EU aufgefordert, ihre Zusammenarbeit mit den libyschen Behörden zur Rückführung von Flüchtlingen in das nordafrikanische Land zu beenden. Nun hat auch die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete die Aufnahme aller Flüchtlinge aus Libyen gefordert.

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) werden derzeit mindestens 5.200 Menschen in offiziellen Internierungslagern in Libyen festgehalten, die meisten von ihnen kommen aus dem Sudan, Somalia und Eritrea. Wie viele in illegalen Lagern in dem von Gewalt und Chaos geprägten Land gefangen gehalten werden, ist nicht bekannt. Rackete sprach von einer halben Million Menschen, "die in den Händen von Schleppern sind oder in libyschen Flüchtlingslagern, die wir rausholen müssen".

"Die dort inhaftierten Menschen, hauptsächlich Geflüchtete, sterben weiterhin an Krankheiten, Hunger und sind Opfer von Gewalt, Vergewaltigung und der willkürlichen Behandlung durch Milizen", sagt Julien Raickmann, Leiter von Ärzte ohne Grenzen in Libyen.

"Manchmal sind die Geflüchteten buchstäblich aufeinander gestapelt, unter entsetzlichen hygienischen Bedingungen und mit großen Schwierigkeiten, an Wasser zu gelangen - ab und zu gibt es überhaupt kein Trinkwasser", berichtet auch Benjamin Gaudin von der Hilfsorganisation Première Urgence Internationale (PUI).

Der Sonderbeauftragte für den zentralen Mittelmeerraum des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Vincent Cochetel, kritisiert die EU: "Die europäischen Länder sind in gewisser Weise blind hinsichtlich der Lage der Migranten in Libyen." Die jüngsten Kämpfe hätten die Situation noch verschlimmert, die EU könne mit den mit Libyen vereinbarten Rückführungen nicht einfach weitermachen.

Nach UN-Angaben wurden seit Januar mehr als 2.300 Menschen auf See aufgegriffen und in die Lager nach Libyen zurückgebracht. Weiter verschlechtert hat sich die Lage der Geflüchteten, seit der libysche General Khalifa Haftar im April eine Offensive zur Einnahme von Tripolis startete, bei der laut UNO bereits mehr als tausend Menschen getötet wurden. Haftars Truppen werden auch für den Luftangriff auf das Flüchtlingslager Anfang Juli verantwortlich gemacht.

Für Entsetzen hatten im Februar Bilder des britischen Senders Channel 4 aus von Menschenschmugglern betriebenen Lagern gesorgt: Zu sehen ist etwa, wie ein Mann am Boden liegt und vor Schmerz schreit. An seine Fußsohlen wird ein Bunsenbrenner gehalten. Ein anderer hängt kopfüber von der Decke, auf seinen Kopf ist eine Pistole gerichtet. Die Milizen wollen mit der Brutalität Geld von den Familien der Flüchtlinge erpressen.

Die Verzweiflung unter den Geflüchteten ist so groß, dass im Mai ein Mann von einem klapprigen Boot ins Meer sprang, als er die nahenden Küstenwachen entdeckte, wie eine Aufnahme der deutschen Seenotrettungsorganisation Sea-Watch zeigt.

Hilfsorganisationen machen für die verzweifelte Lage der Migranten auch die Vereinbarung zwischen den EU-Staaten und der libyschen Küstenwache verantwortlich, mit der erreicht werden soll, dass die Migranten keine europäischen Küsten mehr erreichen.

Die EU weist die Kritik zurück. Die Vereinbarung habe die Zahl der nach Italien kommenden Flüchtlinge deutlich verringert, heißt es. Das südeuropäische Land lässt Rettungsboote seit rund einem Jahr nicht mehr in seinen Häfen anlegen.

Die EU-Kommission verteidigt ihren Kurs: Seit 2014 seien rund 338 Millionen Euro für Programme im Zusammenhang mit Migranten in Libyen gesammelt worden. "Wir sind äußerst besorgt über die Verschlechterung der Situation vor Ort", sagte Kommissionssprecherin Natasha Bertaud. Die Kommission sei überdies nicht handlungsfähig, weil einzelne EU-Mitglieder sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen könnten.

Im vergangenen Monat forderte der Europarat angesichts der verheerenden Zustände ein Ende der Zusammenarbeit mit der Küstenwache des nordafrikanischen Landes. Die libysche Küstenwache sieht sich derweil selbst als "Opfer" der Fluchtbewegungen. Die Geflüchteten seien eine "Bürde" für das Land, meint General Ajub Kacem. Der EU warf er vor, sich nicht um ihr Schicksal zu kümmern. (AFP)