Anatomie des irakischen Widerstands

Die USA wollen im Irak mit den Rebellen verhandeln, um al-Qaida zu isolieren, aber gibt es im Zweistromland überhaupt eine al-Qaida? Peter Harling and Mathieu Guidère informieren

US-Soldaten blicken auf ein Fahndungsfoto auf dem al-Sarkawi abgebildet ist; Foto: AP
Selbst die wenigen Schlüsselfiguren, wie der Jordanier Abu Mussab al-Sarkawi sind keineswegs unangefochtene Führungsfiguren im Irak.

​​Der bewaffnete Widerstand im Irak wird meist als Sammelsurium von Gruppen beschrieben, die untereinander kaum Kontakt haben und jeweils auf eigene Faust agieren.

Unter diesen Gruppen gibt es Erzpatrioten aus dem früheren Offizierskorps wie unbelehrbare Baathisten, ausländische Terroristen wie skrupellose Kriminelle, Sunniten, die ihren seit Jahrhunderten beanspruchten Machtpositionen nachtrauern, andere Muslime, die jede Präsenz fremder Mächte ablehnen, aber auch die vielen Iraker, die im US-Militärjargon POI heißen: "pissed-off Iraqis”, die sich einfach gegen die Besatzung empören. Dazu kommen noch die Stämme, die sich gegenseitig bekriegen.

Selbst die wenigen Schlüsselfiguren, wie der Jordanier Abu Mussab al-Sarkawi oder Issat Ibrahim al-Duri, ein ehemaliger Vertrauter Saddam Husseins, sind keineswegs unangefochtene Führungsfiguren. Da die bewaffnete Opposition weder einen politischen Flügel (wie die irische Sinn Féin) noch ein konkretes Programm hat, erscheinen sie als unverbundene Gruppen, über die man wenig weiß.

Widerstand aus sunnitischen Reihen

Das galt zumindest bis 2003. Seitdem hat eine Art "Klärungsprozess” stattgefunden: Neue Kämpfer werden nicht mehr über die Konfessionsgrenzen hinweg rekrutiert; vielmehr besteht der Widerstand heute ganz überwiegend aus sunnitischen Arabern – ein Resultat der seitdem erfolgten politischen Polarisierung.

Heute lassen sich größere feste Organisationen unterscheiden, die sich allmählich klar umgrenzte Einflusszonen verschaffen: die "Islamische Armee”, die "Organisation der al-Qaida im Zweistromland”, die "Armee der Anhänger der Tradition des Propheten” oder die "Armee Mohammeds”. Damit ist der Irak übersichtlicher geworden, bis auf Regionen wie Dijala, wo die Machtverhältnisse noch unklar sind.

In der Provinz al-Anbar dagegen unterhalten irakische Menschenrechtsorganisationen quasioffizielle Kontakte zum Untergrund, der ihnen Passierscheine ausstellt. Auch die Lkw-Fahrer zahlen "Schutzgelder” und können unbehelligt passieren, solange sie nicht Güter für den "Feind” transportieren.

Jede der Gruppen pflegt mit großem PR-Aufwand ihre Corporate Identity. Ihre Traktate und audiovisuellen Botschaften tragen ein Logo und sind anhand ihrer Präsentation und grafischen Aufmachung sofort identifizierbar. Allerdings erfährt man kaum Genaueres über ihre Beweggründe, ihre Einschätzung des Konflikts oder ihre militärischen Erfolge und ihre Taktik.

Bei der Analyse dieser Botschaften fällt auf, dass die früheren Übertreibungen, Widersprüche oder Uneindeutigkeiten verschwunden sind. Heute sind die Aussagen der Gruppen erstaunlich uniform.

Im Lauf des Jahres 2005 haben sich alle auf eine Rhetorik geeinigt, die als Patriotismus mit salafistischem, also sunnitischem Unterton gelten kann. An die Stelle heftiger Debatten über die Legitimität des Dschihad und die Akzeptanz bestimmter Methoden ist eine eher oberflächliche, aber allseits respektierte Einigkeit getreten.

Scharfe Kritik an Sarkawi

Natürlich gibt es weiterhin Spannungen und Konflikte. So berichten Vertreter humanitärer Organisationen, irakische Journalisten oder Sympathisanten mit Kontakten zum Untergrund, dass Abu Mussab al-Sarkawi wegen einiger Anschläge auf Schiiten intern heftig kritisiert wird.

Einige Gruppen fordern, die Angriffe nur noch gegen Koalitionstruppen zu richten. Das deutet auf Differenzen über Operationen gegen die Zivilbevölkerung wie gegen irakische Polizei- und Militärkräfte.

Die US Marines schließen aus einigen Zwischenfällen der letzten Monate (Morde an ausländischen Dschihadisten, Bemühungen von Stammesführern, ihr Territorium zu behaupten) auf eine "wachsende Kluft” zwischen den Kämpfern irakischer Herkunft und Gruppen aus dem Ausland, deren Ziele mit denen der Iraker nicht vereinbar seien.

Das inspirierte eine neue Strategie der Amerikaner, die einige Gruppen in einen neuen politischen Dialog einbeziehen soll, um die unbelehrbaren Dschihadisten auszugrenzen. Hauptangriffsziel wird neuerdings die irakische Armee.

Einiges mag auf innere Spannungen deuten, die eine gewisse Sprengkraft haben – doch vorerst überwiegen die Einigungstendenzen. Und Streitigkeiten auf lokaler Ebene sind offenbar kein Hindernis für die Entwicklung einer klaren gemeinsamen Strategie der verschiedenen bewaffneten Gruppen. Offiziell halten sich alle an diese neue Vereinbarung, greifen sich nicht mehr öffentlich an und erklären unisono, man wolle noch kein politisches Programm formulieren, denn das würde nur zu Zwietracht führen.

Trotz gelegentlich unterschiedlicher Prioritäten halten sich die Gruppen auch bei ihren militärischen Operationen an die neuen informellen Regeln, die offenbar aus gemeinsamen Diskussionen und Überlegungen nach der zweiten Schlacht um Falludscha im November 2004 resultieren:

Militärischer Strategiewechsel

Angesichts der Übermacht der US-Truppen will man nicht mehr bestimmte Gebiete verteidigen, sondern immer wieder Zonen infiltrieren, die von den Streitkräften der Koalition und der irakischen Armee nicht ständig überwacht werden können.

Diese flexible Taktik soll vor allem den Wiederaufbau des Landes nachhaltig stören. Der magischen Formel der US-Regierung "Aufräumen, sichern, aufbauen” (clear, hold and build) wird also die furchtbare Parole "Gegenschläge, Raubzüge, Rückeroberung” entgegengestellt.

Die Entwicklung des Bürgerkriegs und des "schmutzigen Kriegs” im Irak begünstigt den Einigungsprozess innerhalb der bewaffneten Opposition. Mehr und mehr erscheint die irakische Regierung – schiitisch dominiert und an Teheran angelehnt – als Hauptgegner.

Inzwischen veröffentlichen viele Gruppen minutiöse Berichte über Verbrechen, die man den schiitischen Milizen zuschreibt. Und in den letzten Monaten haben einige Rebellengruppen bestimmte irakische Truppeneinheiten zum bevorzugten Angriffsziel erklärt oder sogar angekündigt, Kampfgruppen speziell für den Einsatz gegen den "inneren Feind” auszubilden.

Der Anschlag von Samarra

Die Rebellen betrachten die Warnung vor einem Bürgerkrieg als übles Propagandamanöver einer Regierung, für die der Zweck die Mittel heiligt – bis hin zum Mittel des Völkermords. So hat der Sprengstoffanschlag, der im Februar 2006 die goldene Kuppel des schiitischen Al-Askari-Schreins von Samarra zerstörte, den inneren Zusammenhalt der bewaffnete Opposition eher verstärkt.

Dadurch wurde der Al-Qaida-Führer Abu Mussab al-Sarkawi, der bei solchen Attentaten stets der Hauptverdächtige ist, nicht etwa geschwächt, sondern in den Augen seiner Verbündeten weitgehend rehabilitiert. Denn alle bedeutenden Untergrundgruppen schrieben die Tat dem Iran und seinen lokalen Verbündeten zu.

Sie verbreiteten Berichte über die Vergeltungsaktionen gegen sunnitische Araber und verurteilten die zynische Haltung ihrer Gegner, die sogar ihr eigenes Heiligtum zerstörten, um einen Vorwand für ihre Repressionspolitik zu haben.

In ihren Augen konnte ein solcher Anschlag – ausgeführt von Männern in Kampfanzügen während einer Ausgangssperre und in einer Stadt, die von schiitischen Milizen beherrscht wird – nur das Werk der Feinde gewesen sein. Im Übrigen hätten al-Sarkawis Truppen, hätten sie das Mausoleum zerstören wollen, genug Zeit gehabt, bevor sie Ende 2005 die Vorherrschaft über Samarra verloren.

Wie komplex und uneinheitlich die Strukturen der bewaffneten Opposition sind, zeigt allein die Tatsache, dass al-Qaida im Irak Fuß fassen konnte. Es ist ein naiver Irrtum, zu glauben, diese Organisation im Irak würde nur von ausländischen Freiwilligen gebildet, deren Befehlsgeber sich nicht im Lande auskennen.

Rückhalt und Unterstützung des Qaida-Netzwerks

Al-Qaida hat ihre Fähigkeit bewiesen, Geld und Kämpfer über die internationalen Netzwerke der Dschihadisten zu schleusen, doch um im Irak aktiv zu sein, brauchte es Rückhalt vor Ort. Immer neue Kandidaten für Selbstmordanschläge zu finden wäre kaum möglich ohne eine Logistik, in der für die Einschleusung von Freiwilligen, die Herstellung von Sprengstoff, für taktische Planung und Kundschaftertätigkeit wahrscheinlich einheimische Kräfte zuständig sind.

Gerade weil die USA alle Mittel einsetzen, um al-Qaida-Mitglieder aufzuspüren, ist die Organisation für Verrat und Unterwanderung besonders anfällig. Umso wichtiger ist die Unterstützung – oder auch nur Duldung und Zusammenarbeit – im Einsatzgebiet. Ohne solche Hilfskräfte wäre al-Qaida im Zweistromland längst nicht mehr aktiv. Al-Qaida versucht, irakisch aufzutreten.

Dass sie es immer noch ist, erklärt sich auch aus der politischen Dimension des bewaffneten Widerstands. Dieser Aspekt wird häufig vernachlässigt, weil er so schwer durchschaubar ist.

Die großen Gruppen sind durchaus politisch aktiv, sie stellen sich ideologisch und praktisch präzise auf die Machtverhältnisse im Land und auf die aktuellen Entwicklungen ein. In dieser Hinsicht hat sich al-Qaida stets geschickt angepasst, um ganz und gar irakisch zu erscheinen, was natürlich auch eine reine Überlebenstaktik ist.

Der Jordanier Abu Mussab al-Sarkawi, berüchtigter al-Qaida-Chef im Irak, hatte bis zu seiner Ende April im Internet veröffentlichten Videobotschaft das publizistische Tagesgeschäft immer mehr dem Iraker Abu Maisara al-Iraki überlassen.

Die neue Generation der Dschihadisten

Auch die Leitung der Militäroperationen wurde einem Iraker übertragen. Im Januar 2006 trat al-Qaida einem Rat irakischer Untergrundorganisationen bei, zu dessen Führer Scheich Abdallah al-Baghdadi gewählt wurde, der Held der Belagerung von Falludscha durch die Koalitionstruppen Ende 2004.

Diese "Irakifizierung” ist allerdings auch Resultat des beträchtlichen Drucks, den die Besatzungstruppen ausüben: Al-Qaida haben Militär und Geheimdienst der USA besonders im Visier, und inzwischen sind etliche prominente (vor allem ausländische) Mitglieder festgenommen worden oder im Kampf gefallen.

Ein im Februar 2006 von der Nefa Foundation veröffentlichtes Organigramm zeigt, dass viele Al-Qaida-Kommandanten irakische Namen tragen, wie etwa al-Muslawi, al-Hiti, al-Baghdadi. Nach irakischen Quellen wurden inzwischen viele der "arabischen Afghanen” getötet, die als Veteranen des Afghanistankriegs zunächst die Führungsriege gestellt hatten.

Das hat den raschen Aufstieg einer neuen Generation von Kämpfern – jungen, fanatischen Irakern ebenso wie kriminellen Glücksrittern – begünstigt. Deren Aktionen sind gefährlicher, weil unkalkulierbarer als die ihrer Vorgänger. Der Feldzug der US-Besatzungsmacht gegen al-Qaida hat zu deren Verwurzelung im Irak beigetragen. Denn sie musste ihre hohen Verluste durch die Rekrutierung irakischer Kämpfer kompensieren – ein durchaus gelungener Anpassungsprozess.

Genau genommen lässt sich die Organisation im Irak gar nicht mehr als al-Qaida bezeichnen. Mit dem Netzwerk, das für die Anschläge des 11. September 2001 verantwortlich war, hat sie nur noch lose Verbindung.

Natürlich hilft der Name Ussama Bin Laden bei der Rekrutierung, doch die religiösen und weltlichen Weisungen des saudischen Terrorchefs finden im Irak kaum Beachtung. Die Richtlinien Mussab al-Sarkawis zum Dschihad im Irak, etwa seine Feindschaft gegen die Schiiten, stehen in klarem Widerspruch zu einigen Grundüberzeugungen Bin Ladens.

Der Krieg im Irak ist also nicht als Nebenschauplatz im unbestreitbaren Niedergang der alten al-Qaida zu sehen. Es handelt sich um einen ganz eigenständigen Konflikt, der für die Dschihadisten in anderen Kampfgebieten wie Afghanistan, Tschetschenien oder Palästina so interessant ist, dass sie Geld und Kämpfer investieren.

Im Übrigen werden inzwischen bestimmte neue Taktiken, etwa bei Selbstmordattentaten, aus dem irakischen Tiefland in die afghanischen Berge exportiert – und nicht umgekehrt. Der Feind, auf den die USA im Irak treffen, ist nicht so sehr ein Grund als vielmehr eine Folge des "Kampfs gegen den Terrorismus”.

Peter Harling, Mathieu Guidère

© International Crisis Group 2006

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Dieser Artikel wurde bereits in "Le Monde Diplomatique" publiziert.

Peter Harling ist Senior Analyst der International Crisis Group (Brüssel); Mathieu Guidère ist Direktor des Laboratoire danalyse de linformation strategique an der CRE Saint-Cyr.

Qantara.de

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