Von Bienenkarten und Plastikstühlen - Gezi-Aktivisten vor Gericht

Die Gezi-Proteste wühlten vor sechs Jahren die Türkei auf. Nun beginnt der Prozess gegen damalige Aktivisten. Die Vorwürfe wiegen schwer und auch deutsche Stiftungen werden in der Anklage erwähnt. Von Von Mirjam Schmitt und Linda Say

Anwalt Can Atalay steht inmitten des Gezi-Parks in Istanbul, er streckt einen Zeigefinger in die Luft und ruft: «Wir sind heute hier und wir werden auch morgen wieder hier sein.» Es ist Ende Mai 2013 und zahlreiche Aktivisten halten den Gezi-Park besetzt, um die Abholzung von Bäumen zu verhindern. Nur wenige Stunden nach Atalays Aufruf, der auf Video festgehalten wurde, stürmt die Polizei den Park, setzt Tränengas ein und zündet die Zelte der Aktivisten an.

Es folgen landesweite Proteste gegen die türkische Regierung. Sechs Jahre später dient das Video, das Atalay zeigt, als Beweismaterial in einem international beachteten Prozess gegen 16 Gezi-Aktivisten von damals. Prozessauftakt ist am 24. Juni, nur einen Tag nach der Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul.

Vor Gericht steht das Who ist Who der türkischen Zivilgesellschaft: Menschenrechtler, Anwälte, Kulturschaffende, Architekten. Der wohl Bekannteste darunter ist der Intellektuelle Osman Kavala (61), der mit seiner Stiftung Anadolu Kültür unter anderem mit dem Goethe-Institut zusammenarbeitet. Er sitzt seit mehr als anderthalb Jahren in Untersuchungshaft. Der Aktivist Yigit Aksakoglu ist seit November 2018 inhaftiert. Andere Angeklagte sind inzwischen im Ausland, etwa der Schauspieler Mehmet Ali Alabora oder der Journalist Can Dündar.

Die Anschuldigungen wiegen schwer: Die Staatsanwaltschaft wirft den Aktivisten in der 657 Seiten langen Anklageschrift einen Umsturzversuch gegen die Regierung vor. Sie verlangt dafür mehrfach lebenslänglich unter erschwerten Bedingungen. Als Geschädigter wird unter anderem der türkische Präsident und ehemalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan aufgeführt. Er hatte die Proteste, die sich am Ende gegen seine autoritäre Politik richteten, damals niederschlagen lassen.

Zum Prozessauftakt will Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) anreisen. Die Anklage sei eine «Farce» und «rechtsstaatlich absolut inakzeptabel», sagte Roth der Deutschen Presse-Agentur. «Es geht darum, Menschen zu kriminalisieren, die eine moderne, weltoffene und demokratische Türkei einfordern.» Roth sieht daher auch die Bundesregierung in der Pflicht und fordert diese auf, sich für die Menschenrechtler einzusetzen.

Auch Atalay weist die Anschuldigungen zurück. «Wir haben keine Straftat begangen, sondern von unseren Rechten Gebrauch gemacht», betont er. «Bei Gezi sind die Menschen auf die Straße gegangen, um Gleichberechtigung, Freiheit und Gerechtigkeit zu fordern.» Mit dem Prozess versuche die Regierung nun, «die Geschichte neu zu schreiben» und die Gezi-Bewegung als Verschwörung und als Putschversuch darzustellen.

Atalay wirkt heute so energisch wie damals. Der Anwalt engagiert sich in der Taksim-Solidarität - jener Bürgerinitiative, die sich schon lange vor den Gezi-Protesten gegen die Bebauung des Parks gewehrt hatte.

Die Polizei ging damals äußerst brutal vor und setzte vor allem Tränengas ein, was bei Menschenrechtlern auf massive Kritik stieß. Der Türkei-Experte von Amnesty International, Andrew Gardner, sagt, die Regierung habe friedliche Proteste «skrupellos mit Polizeigewalt unterdrückt». Mindestens vier Menschen starben demnach an den Folgen von Polizeigewalt. Darunter der 15-jährige Berkin Elvan, der von einer Tränengaskartusche am Kopf getroffen wurde und nach monatelangem Koma starb. Statt die Aktivisten von damals anzuklagen, müsse die Gewalt der Sicherheitskräfte untersucht werden, fordert Gardner.

Die Staatsanwaltschaft dagegen argumentiert, dass die Gezi-Proteste «eigentlich ein Umsturzversuch» gewesen seien, den die Verdächtigen mit Unterstützung des Auslands finanziert und koordiniert hätten. Sie stützt sich dabei auf angebliche Beweise wie Videos, abgehörte Telefongespräche, Twitter-Nachrichten und private Fotos aus den Mobiltelefonen der Angeklagten.

Teilweise reichen die abgehörten Gespräche bis ins Jahr 2009 zurück. Die Anklage zeigt daher auch, wie akribisch der türkische Staat seine Bürger überwacht - selbst wenn sich diese mit Diplomaten verabreden. Bilder zeigen, wie sich Atalay, Kavala und ein deutscher Diplomat im Zentrum von Istanbul treffen.

Auch deutsche Stiftungen, die die Projekte von Kavalas Stiftung Anadolu Kültür unterstützen, werden in der Anklageschrift aufgeführt. An anderer Stelle in der Anklage geht es in einem Telefongespräch Kavalas um die Vorbereitung von 100 Sandwiches, außerdem um die Besorgung von Plastiktischen und Plastikstühlen. Besonders absurd scheint das Foto einer Landkarte, das auf Kavalas Telefon gefunden wurde. Darauf sind die Türkei, Syrien sowie der Irak zu sehen und verschiedene Linien eingezeichnet. Die Karte zeige eine Neuauslegung der Grenzen, heißt es in der Anklage - damit werde die Integrität des Landes infrage gestellt.

Es handelt sich jedoch um eine Karte über die Verbreitung von Honigbienen im Nahen Osten. Zu finden ist sie in Schwarz-Weiß auf Seite 180 des 1988 auf Englisch veröffentlichten Buches «Die Biogeografie und Systematik von Honigbienen». Geschrieben hat es der österreichische Bienenkundler Friedrich Ruttner.  

Trotz der Kuriositäten warnt Atalay vor einer Verharmlosung: «Man darf die Anklageschrift nicht als lächerlich oder unseriös abtun», sagt er. Sie zeige, dass es nicht mehr um glaubwürdige Beweise gehe, sondern um Hypothesen, die die Beschuldigten widerlegen müssten. Solange sich die Regierung und das politische Klima nicht änderten, würden alle Angeklagten bestraft. Auf Zuspruch von Freunden reagiert er sarkastisch: «Ich fühle mich so, als würde ich Beileid für mein eigenes Begräbnis entgegennehmen.» (dpa)