Die wahhabitischen Gelehrten als Hindernis

Obwohl die saudi-arabische Regierung Schritte hin zu einer liberaleren Innenpolitik unternimmt, sind grundlegende Reformen nicht zu erwarten. Grund ist das Bündnis zwischen der Herrscherfamilie und den wahhabitischen Gelehrten. Von Guido Steinberg

Obwohl die saudi-arabische Regierung seit einigen Jahren Schritte hin zu einer liberaleren Innenpolitik unternimmt, sind grundlegende Reformen nicht zu erwarten. Grund ist das althergebrachte Bündnis zwischen der Herrscherfamilie und den wahhabitischen Gelehrten. Guido Steinberg mit Hintergründen

Räumungsarbeiten nach Terroranschlag in Riad im November 2003; Foto: AP
Die wahhabitischen Gelehrten in Saudi-Arabien bilden das Bindeglied zwischen Königshaus und Radikal-Islamisten

​​Die wahhabitischen Rechtsgelehrten sind die Grundlage der religiösen Legitimität der saudi-arabischen Regierung und ihr wichtigstes Instrument im Kampf gegen die islamistische Opposition im Land, wie sich in den Krisen der Vergangenheit immer wieder zeigte.

Deshalb beugt sich die Regierung ihrem Widerstand gegen eine politische Beteiligung von Nichtwahhabiten in einem offeneren politischen System. Stattdessen versucht sie mit unzureichenden Maßnahmen, Reformdruck abzubauen, ohne die Stellung der mächtigen Gelehrten allzu sehr zu beeinträchtigen.

Wie sehr die saudi-arabische Regierung auf die Unterstützung der wahhabitischen Gelehrten angewiesen ist, zeigte sich erstmals 1979. Damals besetzten mehrere hundert mehrheitlich saudi-arabische Islamisten die Große Moschee von Mekka und nahmen Pilger als Geiseln.

Es handelte sich bei den Geiselnehmern um Wahhabiten, die die herkömmliche, staatstragende Interpretation der wahhabitischen Lehre durch die führenden Religionsgelehrten ablehnten.

Abdalwahhab und die Gründung Saudi-Arabiens

Die wahhabitischen Geistlichen berufen sich auf das 1744/45 geschlossene Bündnis des religiösen Reformers Muhammad ibn Abdalwahhab (1704-1792) mit dem damaligen Herrscher Muhammad ibn Saud (gest. 1765), das den saudi-arabischen Staat begründete.

Zwar hatte die Familie Saud den Einfluss der Gelehrten im Laufe des 20. Jahrhunderts massiv beschnitten und sie auf die Rolle eines Juniorpartners in der saudischen Politik beschränkt.

Dennoch zeigten sie sich 1979 loyal. Obwohl sie Sympathien für die Forderungen der Aufständischen – Beendigung der Präsenz von "Ungläubigen" in Saudi-Arabien, die Kündigung des Bündnisses mit den USA, eine Abkehr der Herrscher von Luxus und Korruption sowie ganz allgemein eine Rücknahme der Modernisierungsschritte im Land – hegten, verurteilten sie die Besetzung und legitimierten die Militäraktion, mit der die Rebellen aus der Moschee vertrieben wurden.

Die Gruppe der Moscheebesetzer forderte im Wesentlichen eine Rückkehr der Wahhabiya zu ihren militant-puristischen Wurzeln: Ibn Abdalwahhab hatte im Bunde mit Muhammad ibn Saud kompromisslos all diejenigen bekämpft, die aus wahhabitischer Perspektive ungläubig sind.

Das waren vor allem Muslime in den vom Osmanischen Reich beherrschten Randgebieten der Arabischen Halbinsel, die die Glaubenslehre der Wahhabiya nicht teilten und nicht entsprechend ihrer strikten Verhaltensvorschriften lebten. Sie alle wurden in einem fortwährenden Heiligen Krieg bekämpft, der idealerweise erst mit der Niederlage und "Konversion" aller Nichtwahhabiten enden sollte.

Die Fremdenfeindlichkeit der Wahhabiya übertrug sich im 20. Jahrhundert auf Juden und Christen, was die seit 1945 engen sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen Riad und Washington so problematisch machte.

Während die Moscheebesetzer auf dieser Grundlage eine revolutionäre Ideologie entwarfen, glaubten die wahhabitischen Gelehrten, dass nur ihr Bündnis mit dem saudi-arabischen Staat auch den Bestand der Wahhabiya als religiöse Bewegung garantiere.

Die Wahhabiya als Machtgarant

Ihre Stellungnahme zugunsten der Herrscherfamilie trug entscheidend dazu bei, dass Saudi-Arabien die Krise von 1979 unbeschadet überstehen konnte. Anfang der 1990er Jahre zeigte sich erneut, wie wichtig die Unterstützung der Religionsgelehrten ist, will sie die islamistische Opposition eindämmen und kontrollieren.

Solange die Herrscherfamilie die engen Beziehungen zu den USA diskret handhaben konnte, blieb der Protest sporadisch. Als infolge der irakischen Invasion in Kuwait jedoch im August 1991 amerikanische Truppen zum Schutz vor dem mächtigen Nachbarn ins Königreich gerufen wurden, richtete sich der Zorn vieler Wahhabiten gegen das Königshaus.

Erstmals entstand eine breite islamistische Oppositionsbewegung, die vor allem gegen die Präsenz nichtmuslimischer Truppen im "Land der Heiligen Städten" Mekka und Medina protestierte. Ihnen erschien die Anwesenheit von Amerikanern im Ursprungsland des Islam als Sakrileg.

Als die Proteste sich im Spätsommer 1993 intensivierten, griff die Regierung ein und ließ zahlreiche Islamisten, unter ihnen auch mehrere prominente jüngere Religionsgelehrte, verhaften.

Die führenden wahhabitischen Religionsgelehrten hatten zwar Sympathien für viele Forderungen der jungen Radikalen, beschlossen jedoch erneut, sich auf die Seite der Herrscherfamilie zu stellen und trugen so maßgeblich zur Stabilisierung der innenpolitischen Lage bei.

Politischer Spagat

Heute wirkt sich die starke Stellung der Religionsgelehrten retardierend auf die Reformpolitik der Regierung aus. Die treibende Kraft aller Liberalisierungsbemühungen nach 2001 war Kronprinz Abdallah (geb. 1923), der nach dem Tode seines Bruders Fahd im August 2005 dessen Nachfolge antrat.

Noch zu Lebzeiten König Fahds hatte Abdallah eine vorsichtige Reformpolitik betrieben, deren bisheriger Höhepunkt die Kommunalwahlen im Jahr 2005 waren. Besonders schmerzhaft für das wahhabitische religiöse Establishment war aber der "Nationale Dialog", eine Serie von Konferenzen seit 2003, bei der Vertreter aller Bevölkerungsgruppen zusammenkamen und strittige Fragen berieten.

War schon die Anwesenheit von liberalen Reformern und Frauen schwer zu akzeptieren, so stieß die Präsenz von Schiiten auf scharfe Ablehnung vieler Konservativer. Das Schiitenproblem ist symptomatisch für die Schwierigkeiten innenpolitischer Reform in Saudi-Arabien.

Schiiten stellen zwischen 8 und 12 Prozent der Bevölkerung Saudi-Arabiens und gelten der Wahhabiya als die Ungläubigen schlechthin. Dementsprechend werden sie in Saudi-Arabien sozio-ökonomisch benachteiligt, politisch marginalisiert und ihre Religionsausübung massiv eingeschränkt.

Ihre Einbeziehung zeigt zum einen, wie weit König Abdallah bereit ist, dem wahhabitischen Establishment entgegenzutreten; gleichzeitig zeigen sich an ihrem Fall die Grenzen der Reform.

Ihre Anerkennung als gleichberechtigte Muslime und Staatsbürger bleibt nämlich aus. Sie ist unmöglich, weil die Herrscherfamilie diejenige religiöse Legitimität zu bewahren sucht, die nur die wahhabitischen Gelehrten ihr verschaffen können.

Obwohl die Islamisten in Saudi-Arabien heute schwach und unorganisiert sind, sieht sich die Regierung von ihrer Opposition bedroht. Deshalb wird sie ihr Bündnis mit den wahhabitischen Gelehrten nicht aufgeben. Solange dies aber nicht geschieht, werden tiefgreifende innenpolitische Reformen ausbleiben.

Guido Steinberg

© Qantara.de 2006

Dr Guido Steinberg ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und war von 2002-2005 Referent im Referat Internationaler Terrorismus des Bundeskanzleramts

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