Das deutsche Religionsrecht ist im Umbruch

Kopftuch, Beschneidung, Schächten: Religiöse Traditionen und Gebote, die nicht christlich begründet sind, sorgen immer wieder für heftige Debatten - auch über die religionsrechtlichen Grundlagen in Deutschland.

Das deutsche Religionsrecht, einst als "Staatskirchenrecht" bekannt, steht unter Druck. Hohe Austrittszahlen stellen die gesellschaftliche Relevanz der Kirchen und damit auch deren verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen infrage. Die wachsende Bedeutung des Islam schafft neue Probleme. Drei Jubiläen nahm die Katholische Akademie in Berlin jetzt zum Anlass, diese Fragen zu beleuchten.

Es sind 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 70 Jahre Grundgesetz und 30 Jahre Fall der Berliner Mauer mit der Wiedervereinigung als Folge. Ein weiterer Termin ergab sich unerwartet und bestätigte die Aktualität des Themas. Am Donnerstag stellte die Berliner Senatsbildungsverwaltung ein Rechtsgutachten zum Neutralitätsgesetz des Landes Berlin vor. Es bestätigte das darin festgeschriebene "Verbot religiös ausdrucksstarker Kleidung" im Staatsdienst und dürfte die Debatte um das Kopftuchverbot von Lehrerinnen neu befeuern.

Der auch in anderen Bundesländern virulente Konflikt zeigt eine zentrale Eigenschaft des deutschen Religionsverfassungsrechts: Es wurde 1919 mit Blick auf die beiden großen Mehrheits-Kirchen und ihren hohen Organisationsgrad entwickelt, wie der Berliner Staatsrechtler Christian Waldhoff betonte. Zwar taten sich die Protestanten nach dem Sturz von Kaiser, Königen und Fürsten und deren landesherrlichem Kirchenregiment damit schwerer als Katholiken, so der Tübinger Kirchenrechtler Michael Droege. Die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung sicherten den Kirchen aber weitgehende Selbstbestimmung und Mitwirkungsrechte bei gemeinsamen Aufgaben mit dem Staat wie Religionsunterricht und Militärseelsorge.

30 Jahre später sahen die Väter und Mütter des Grundgesetzes keinen Anlass zu Änderungen. Sie implantierten die Weimarer Kirchenartikel unverändert in die Verfassung der Bundesrepublik, wo anfangs über 90 Prozent der Bürger einer Kirche angehörten. Religionsrechtliche Konflikte blieben in der "Bonner Republik" im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Streitfragen vom Umfang her "relativ unbedeutend", wie Ex-Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm bilanzierte. Sie betrafen vor allem Kirchensteuer und Schulfragen.

Auch die Wiedervereinigung hatte zunächst keinen Einfluss auf das Religionsverfassungsrecht, auch wenn Kirchensteuer, schulischer Religionsunterricht und Militärseelsorge unter ostdeutschen Protestanten nach Aussage der Theologin Ellen Ueberschär zeitweise "hoch kontrovers" waren. Erst im laufenden Jahrzehnt zeigte sich in Gerichtsurteilen, dass sich das Verständnis von Religionsfreiheit unter den Bedingungen der "Berliner Republik" wandelt.

Als Veränderungsfaktor erweist sich auch das Unbehagen der Mehrheitsbevölkerung am Islam. Grundsätzlich sind die meisten Deutschen zwar für Toleranz gegenüber Religionen, so der Münsteraner Religionssoziologe Detlev Pollack. Dem Islam schreiben sie aber oft negative Eigenschaften wie Fanatismus und Gewaltbereitschaft zu. Im Gegensatz dazu beobachtet Pollack einen Trend der Justiz zu liberaler Rechtsprechung, etwa beim "Kopftuch".

Zumindest bei islamischen Wissenschaftlern gibt es die Bereitschaft, dem deutschen Religionsverfassungsrecht mit seiner Bevorzugung klar strukturierter religiöser Körperschaften "entgegenzukommen", wie der Hamburger Juniorprofessor für Islamische Theologie, Serdar Kurnaz, versicherte. Er skizzierte die Möglichkeit eines Dachverbandes muslimischer Organisationen als Verhandlungspartner des Staates. Für einen solchen Verband sei ein "festgeschriebener Grundkonsens" unabdingbar, betonte Kurnaz. Die theologische Expertise dafür könnten die Islam-Institute an den deutschen Hochschulen liefern.

Der deutsche Staat sei schon jetzt bereit, bei der Integration des Islam auch neue Wege zu gehen, sagte die Bochumer Professorin für Kirchenrecht, Judith Hahn. Sie verwies auf die Beiräte der universitären Islam-Institute, in denen muslimische Organisationen vertreten sind. Oft bleibe Muslimen aber nur die Möglichkeit, ihr Recht auf Religionsfreiheit individuell vor Gericht einzufordern. Immer wichtiger werde dabei die EU-Rechtsprechung, die im Übrigen auch dem kirchlichen Arbeitsrecht engere Grenzen setze. (KNA)