Der Weg führt über Jerusalem

Die jüngste Gewalteskalation im Gazastreifen macht erneut deutlich: Die Hamas und der Iran können nur geschwächt werden, wenn die Palästinenser Aussicht auf einen eigenständigen Staat haben. Eine Analyse von Volker Perthes

Ein zerstörtes Gebäude der Hamas im Gazastreifen; Foto: AP
Mit der Operation "Gegossenes Blei" will Israel den Raketenbeschuss des Landes durch die Hamas beenden.

​​ Militärische Eskalationen wie die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas können die Sicht auf die strukturellen Veränderungen der Machtbalancen im Nahen und Mittleren Osten leicht verstellen. Diese sind in den vergangenen Jahren durch zwei Ereignisse wesentlich bestimmt worden: den Irakkrieg von 2003 und den Libanonkrieg des Jahres 2006.

Der Irakkrieg revolutionierte die regionalen geopolitischen Verhältnisse. Erstmals seit dem Ende der Kolonialzeit wurde ein arabischer Staat vollständig von einem außerregionalen Akteur besetzt. Die USA sind seither nicht nur ein Hegemon, sondern die militärisch stärkste Landmacht im Mittleren Osten.

Mit dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen und mit dem syrischen Truppenabzug aus dem Libanon wurden völkerrechtlich zwar nie anerkannte, de facto aber recht harte Grenzen der Dominanz neu gezogen. So brach die alte fragile regionale Ordnung an mehreren Stellen auf, ohne dass eine neue geschaffen worden wäre.

Signifikante Machtverschiebung im Mittleren Osten

Dabei haben sich die Machtgewichte verschoben: Auf politisch-ideologischer Ebene hat der säkulare arabische Nationalismus einen vermutlich tödlichen Stoß erhalten, was sich im raschen Sturz von Saddam Hussein oder in der Niederlage der Fatah gegen die islamistische Hamas bei den palästinensischen Wahlen von 2006 zeigte.

Gewonnen haben verschiedene Spielarten des politischen Islam – von den heute regierenden Parteien im Irak über national-konservativ-islamistische Kräfte wie die Hamas in Palästina, die konfessionalistische Milizpartei Hisbollah im Libanon; auch terroristische Gruppen vom Schlage der al-Qaida haben von der Entwicklung profitiert.

Karte Länder des Nahen Ostens; Foto: DW/Peter Steinmetz
Iran ist einer der Gewinner der neuen Kräfteverhältnisse im Nahen Osten.

​​ Westlichen Akteuren ist inzwischen klar geworden, wie wichtig es ist, zwischen den unterschiedlichen Schattierungen des Islamismus zu differenzieren.

Auf der Ebene der Staaten wird man zwischen den Machtverschiebungen in der arabischen Welt und denen im weiteren Mittleren Osten unterscheiden müssen. So spielt Saudi-Arabien heute eine diplomatische Rolle, die ihm kaum jemand zugetraut hätte.

Dazu gehören Initiativen im israelisch-palästinensischen Friedensprozess oder im Libanon genauso wie eine aktive Iran-Politik: Riad versucht den Einfluss Teherans auszubalancieren, engagiert Iran gleichzeitig politisch und verwehrt sich US-Versuchen, eine anti-iranische Allianz "moderater" arabischer Staaten aufzubauen.

Libanonkrieg als Kräftemessen

Hauptgewinner der Kräfteverschiebungen ist aber Iran. Der Irak ist keine Bedrohung mehr, iranischer Einfluss im Libanon hat zugenommen, die Spaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde hat der iranischen Führung eine Eintrittskarte zumindest in den Gazastreifen beschert.

Zudem ist Iran der einzige regionale Akteur, der den US-Hegemon noch herausfordert. Das Atomprogramm wird diese Position weiter stärken, auch wenn Iran nie eine Bombe baut: Es reicht, wenn die Nachbarn glauben, dass Teheran dazu in der Lage ist.

Frauen im Libanon vor zerstörten Häusern im September 2006; Foto: AP
Der Libanonkrieg von 2006 hat neben dem Irakkrieg von 2003 wesentlich Einfluss genommen auf die Machtbalance im Nahen und Mittleren Osten, so Volker Perthes.

​​ Es war angesichts dieser Konstellation kaum verwunderlich, dass der Libanonkrieg von 2006 als ein Kräftemessen zwischen Israel und Iran, wenn nicht sogar zwischen den USA und Iran verstanden wurde. Er zeigte vor allem, wie fragil die regionale Ordnung war. So wurde eine Welle des politischen Konfessionalismus losgetreten, bei der ursprünglich geopolitische Konflikte im Licht des konfessionellen Schismas zwischen Sunniten und Schiiten umgedeutet wurden.

Der Libanonkrieg demonstrierte zudem, dass regionale Probleme sich nicht unilateral lösen ließen. Im Ergebnis beförderte der Krieg eine Wende zum Realismus – und eine Wiederentdeckung der Diplomatie.

Rückkehr der Diplomatie

So schlug Washington seit 2006 einen Kurs des vorsichtigen diplomatischen Engagements ein – gegenüber irakischen Aufständischen nicht anders als gegenüber Iran. Zwischen Israel und Syrien sowie zwischen Israel und der Palästinenserbehörde wurden Friedensbemühungen wieder aufgenommen.

Ägypten vermittelte zwischen Israel und der Hamas. Saudi-Arabien bemühte sich um eine Vermittlung zwischen den beiden Teilen der Palästinenserbehörde wie auch um Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Katar half den libanesischen Konfliktparteien und ihren regionalen Patronen, sich auf eine Neuverteilung der Macht zu einigen. Die Türkei organisierte auf Wunsch der beiden Staaten indirekte Verhandlungen zwischen Israel und Syrien.

Nun hieß Rückkehr der Diplomatie aber nicht, dass Konflikte nicht weiterhin auch mit harten Bandagen ausgetragen würden. Regionale Dynamiken dürften auch künftig bestimmt werden durch gelegentlich gewaltsame Versuche, machtpolitische Vakui zu füllen. Im Gazastreifen und im Libanon streiten nicht nur lokale Gruppen um Dominanz. Hier, wie auch im Irak, konkurrieren die USA, Iran und Saudi-Arabien um Einfluss.

Der Balkan-Stabilitätspakt als Modell für Nahost

Wie sollten westliche Staaten sich angesichts dieser Gemengelage verhalten? Erstens wird man die Gewichtsverlagerung von den alten Zentren des Nahen Ostens in Richtung des Persischen Golfes, seiner großen Anrainerstaaten Saudi-Arabien und Iran berücksichtigen müssen. Dies heißt, regionale Sicherheitsarrangements für den Golf auf den Weg zu bringen. Wenn dafür ein Modell gesucht werden sollte, wäre das vermutlich der Balkan-Stabilitätspakt.

Bild Volker Perthes; Foto: picture-alliance/dpa
Es reicht nicht mehr, um den Konflikt zwischen Israel und der Hamas "herumzuarbeiten", wie es gelegentlich im EU-Duktus heißt, meint Volker Perthes.

​​ Zweitens sollten die regionalen Akteure ermutigt werden, diplomatisch noch stärker ins Spiel zu kommen. Tatsächlich ist die auf regionale Konflikte bezogene Agenda der Türkei, Saudi-Arabiens oder auch Ägyptens in den vergangenen Jahren häufiger sehr viel pragmatischer gewesen als die mancher westlicher Akteure.

Zumindest hatten diese strukturell konservativen Mächte kein Interesse an einer Revolutionierung der Verhältnisse im Nahen und Mittleren Osten. Und sie haben auch das Gespräch mit Kräften wie der Hamas nicht abgelehnt, die sich zwar bislang dem internationalen Konsens entziehen, ohne die Lösungen aber nicht durchsetzbar sind.

Drittens zeigen die jüngsten Kämpfe zwischen Israel und der Hamas, wie wichtig ein glaubhafter Friedensprozess im Nahen Osten für die Gesamtregion bleibt: Es reicht nicht mehr, um den Konflikt "herumzuarbeiten", wie es gelegentlich im EU-Duktus heißt.

Es hilft auch nicht, über iranischen Einfluss in Palästina zu klagen. Dieser Einfluss wird weiter zunehmen, je mehr die Hoffnung der Palästinenser auf eine Zwei-Staaten-Lösung schwindet.

Nur eine Rückkehr zu glaubwürdigen Verhandlungen über die Grenzen Israels und des palästinensischen Staats, über Jerusalem, die Siedlungen und die Flüchtlinge wird die Hamas und den iranischen Einfluss schwächen.

Volker Perthes

© Süddeutsche Zeitung 2009

Volker Perthes ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Das Institut berät auch die Bundesregierung in außenpolitischen Fragen.

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