Im Geiste Al-Qaidas: Idlibs Schicksal hängt von syrischer Miliz ab

Eine Pufferzone in Syriens letzter großer Rebellenhochburg Idlib soll eine angedrohte Offensive der Regierung abwenden. Doch eine radikale Miliz droht mit Widerstand. Von Jan Kuhlmann

Die Gesichter der Männer in Uniform sind vermummt, als die syrischen Rebellen ihre Waffen in Anschlag bringen. Schüsse fallen, irgendjemand schreit kurze Befehle. Andere Szenen des Propagandavideos zeigen, wie Kämpfer, manche von ihnen bärtig, mit Schaufeln Gräben ausheben und Sandsäcke stapeln. Die Botschaft, die die radikal-islamische Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) mit dem Film vermitteln will, macht schon der Titel deutlich: «Wir sind bereit» - bereit für den Kampf bis zum letzten Tropfen Blut.

Bis zum 15. Oktober wollen Russland und die Türkei als Schutzmächte der syrischen Kriegsgegner in der umkämpften Region Idlib im Nordwesten des Landes eine entmilitarisierte Pufferzone errichten.

Das Anfang September zwischen Moskau und Ankara ausgehandelte Abkommen soll eine Offensive der Regierungskräfte auf die letzte große Rebellenhochburg und damit ein neues Blutbad abwenden. Der Plan sieht vor, dass alle radikalen Gruppen nicht nur ihre Waffen abgeben, sondern auch aus der Pufferzone abziehen. Ein heikles Unterfangen.

Denn die Miliz HTS hat sich im Bürgerkrieg den Ruf erworben, so entschlossen wie wenige andere Gruppen gegen die unter den Rebellen verhasste Regierung zu kämpfen. Lange trat sie als syrischer Ableger des Terrornetzwerkes Al-Qaida auf. Sie landete deshalb auf den Terrorlisten der USA und anderer Staaten. Ihr werden noch immer gute Verbindungen zu der Organisation nachgesagt, auch wenn sie sich vor rund zwei Jahren offiziell von ihr losgesagt hat. Ideologisch steht HTS der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) nahe, ist aber seit einer Spaltung tief verfeindet mit ihr. Anders als beim IS rekrutiert die Miliz die meisten ihrer Kämpfer aus der lokalen Bevölkerung.

HTS - die Abkürzung für «Organisation für die Befreiung (Groß-)Syriens» - gehört zu den mächtigsten Milizen in Idlib und kontrolliert große Teile des Gebiets, darunter die gleichnamige Provinzhauptstadt und das Grenzgebiet zur Türkei. Dort hat sie eine so genannte «Regierung der Rettung» installiert. Wie viele Männer für sie kämpfen, ist unklar. Der UN-Syrien-Vermittler Staffan de Mistura sprach von schätzungsweise 10.000. Die Bundesregierung geht in einer internen Bewertung von etwa 8.000 Kämpfern aus.

Bislang hat die Rebellengruppe offiziell noch nicht erklärt, wie sie es mit dem russisch-türkischen Abkommen hält. Doch in den Internetkanälen der Miliz ließen wichtige Anführer verlauten, dass sie die Einigung ablehnen: «Wer dich fragt, deine Waffen abzugeben, der muss bekämpft werden», drohte etwa Abu al-Jakasan al-Masri, einer der bekanntesten und berüchtigtsten Köpfe der Dschihadisten.

Wie sich die HTS-Miliz entscheidet, hängt nicht zuletzt von ihrem Anführer Abu Mohammed al-Dschaulani ab, den manche in Idlib «den Fuchs» nennen. Der Syrer zählt zu den mysteriösesten Figuren des Bürgerkriegs, ein Stratege, aber auch ein schwieriger Charakter, wie der Vertreter einer konkurrierenden Rebellengruppe erzählt.

Selbst seinen eigenen Kämpfern soll sich Al-Dschaulani nur selten zeigen. In zwei Interviews mit dem arabischen Nachrichtenkanal Al-Dschasira ließ er sich nur von hinten filmen, den Kopf mit einem Tuch verdeckt. So ist über den Syrer wenig bekannt.

Schon seit langem kämpfen innerhalb der Miliz zwei Flügel um den Kurs: ein gemäßigterer, der das Abkommen akzeptieren will; und die Hardliner, die die Einigung ablehnen und die Miliz zurück in den Arm von Al-Qaida führen wollen. Praktisch um jeden Preis. Eine kleine, besonders radikale Gruppe hat sich bereits abgespalten und tritt jetzt unter dem Namen Hurras al-Din («Wächter der Religion») auf.

Es liegt an der Türkei, Verbündeter der Regierungsgegner, die Extremisten zum Abzug aus der Pufferzone zu bringen. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu drohte, die Region werde «von Radikalen gesäubert».

Seit Wochen soll der türkische Geheimdienst versuchen, die Miliz zur Auflösung zu bewegen. Weil das bislang ohne Erfolg blieb, erhöhte Ankara den Druck und setzte die radikale Gruppe auf die eigene Terrorliste. Lehnen es die Dschihadisten ab, sich dem Abkommen zu fügen, bliebe der Türkei nur ein Weg: militärische Gewalt. Mit eigenen Truppen oder durch verbündete Rebellen.

Andere bewaffnete Regierungsgegner dürften zum Kampf gegen die HTS-Miliz bereit sein, wenn die Türkei das will. Seit Monaten schon kommt es immer wieder zu gegenseitigen Übergriffen. Erst am Montag meldeten Aktivisten, Unbekannte hätten einen HTS-Anführer erschossen. Russland, der enge Verbündete der Regierung, wird sich genau anschauen, ob der Kampf gegen die Dschihadisten erfolgreich sein wird.

Sollte sich die Miliz nicht bis Mitte Oktober aus der Pufferzone zurückziehen, stände das türkisch-russische Abkommen auf der Kippe - dann hätten Moskau und das syrische Regime einen guten Vorwand gefunden, um die Region Idlib doch noch anzugreifen. (dpa)