Al-Rakka vor dem Fall - IS-Kämpfer kapitulieren, Zivilisten fliehen

In Al-Rakka plante der IS seine verheerenden Anschläge. Nun bricht die Herrschaft der Dschihadisten in ihrer heimlichen Hauptstadt zusammen. Für den Drahtzieher des Bataclan-Attentats von Paris könnte die Stadt zur Falle werden. Von Benno Schwinghammer und Ramadan al-Fatash

Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) steht vor dem Verlust ihrer einstigen Hochburg Al-Rakka in Nordsyrien. Nachdem sich in den vergangenen Tagen Hunderte ihrer Kämpfer bei den heftigen Kämpfen ergeben hatten, kontrollierten am Sonntag nur noch etwa 150 Dschihadisten ein wenige Hundert Meter langes Gebiet im belagerten Zentrum der früheren heimlichen Hauptstadt des IS. Dies berichteten die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die in Al-Rakka gegen die Extremisten kämpfen.

Im Rahmen eines Abkommens örtlicher Stämme mit den Dschihadisten konnten mehr als 3.000 Zivilisten aus der Stadt fliehen. Den SDF zufolge ergaben sich 275 syrische IS-Kämpfer, nachdem die Einigung für einen friedlichen Abzug für sie und ihre Familien erzielt worden war. Das von der kurdischen YPG-Miliz geführte Bündnis wird von Luftangriffen der US-geführten Internationalen Koalition sowie durch Spezialeinheiten am Boden unterstützt.

Die SDF starteten in Al-Rakka am Sonntag eigenen Angaben zufolge eine letzte Offensive, um die Stadt von den restlichen IS-Mitgliedern zu befreien, bei den es sich fast ausschließlich um ausländische Kämpfer handeln soll. Nach einem weiteren Vorrücken am Sonntag waren den Angaben zufolge aber noch immer sechs Bezirke in Händen des IS. Wie lange sich die Kämpfe noch hinziehen könnten, blieb zunächst unklar.

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete am Samstag, dass die Verhandlungen über den Abzug der ausländischen IS-Mitglieder stockten, weil der Drahtzieher des schweren Anschlages in Paris 2015 unter den Verbliebenen sein soll. Er soll sich weigern aufzugeben.

Bei der koordinierten Anschlagserie in Paris im November 2015 hatten IS-Extremisten 130 Menschen getötet. In der Konzerthalle Bataclan richten sie ein Massaker an, Bars und Restaurants wurden beschossen, am Stade de France sprengten sich während des Fußball-Länderspiels Frankreich-Deutschland drei Selbstmordattentäter in die Luft.

Dass IS-Kämpfer sich ergeben statt den Märtyrer-Tod zu sterben, ist in den Augen der Dschihadisten in höchstem Maße unehrenhaft und deshalb relativ selten. Die Internationale Koalition sieht den Grund dafür auch darin, dass die Kämpfer an der Front völlig von der Führungsebene der Organisation abgeschnitten sind. 

Mit dem bevorstehenden Fall von Al-Rakka verliert der IS, der die Stadt 2014 erobert hatte, nach Mossul im Nordirak ihre wichtigste Hochburg. Als heimliche Hauptstadt der Extremisten wurde der schmucklose Ort am Fluss Euphrat zum Zentrum der Anschlagsplanung der mächtigsten Terrororganisation der Welt. In Al-Rakka wurden in den vergangenen Jahren nach US-Angaben Angriffe globalen Ausmaßes geplant.

Im November vergangenen Jahres hatte das SDF-Bündnis die Offensive auf die Stadt begonnen. Nachdem sie eingekreist war, begann der Sturm auf Al-Rakka Anfang Juni. Es dürften sich noch wenige Tausend Zivilisten in der Stadt befinden, unter ihnen die Familien der verbliebenen Kämpfer. Wasser, Nahrung und Medikamente dort sind knapp. Insgesamt waren in den vergangenen Monaten Hunderttausende vor den Kämpfen aus der Region geflüchtet.

Der IS hatte in den vergangenen Monaten bereits die wichtigsten Teile seines Herrschaftsgebietes in Syrien und im Irak verloren, in dem er einst ein Kalifat ausgerufen hatte. Nachdem die Extremisten an fast allen Fronten zurückgedrängt wurden, bleibt ihnen als Rückzugsort neben größeren Wüstengebieten nur noch das Siedlungsgebiet am Euphrat im Grenzgebiet von Syrien und dem Irak. (dpa)