15. Juli - Jahrestag des Putschversuchs in der Türkei: Die gespaltene Nation

Ein Jahr nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei hat Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Macht gestärkt, doch ist die türkische Gesellschaft tief gespalten. Wenn am Samstag mit landesweiten Kundgebungen der Jahrestag begangen wird, ist die nach dem Putschversuch herrschende Einigkeit zwischen Opposition und Regierung nur noch eine ferne Erinnerung. Während die Regierung den 15. Juli als "Sieg der Demokratie" feiert, hinterfragt die Opposition inzwischen die offizielle Darstellung der Ereignisse.

"Ein Jahr nach dem Putschversuch ist Präsident Erdogan stärker denn je", sagt Özgür Ünlühisarcikli, Büroleiter in Ankara vom German Marshall Fund. "Seine Kontrolle über seine AKP ist absolut, und infolge der Atmosphäre der Angst, die durch die Entlassungen nach dem Putschversuch erzeugt wurde, ist seine Kontrolle über die Bürokratie, den Privatsektor und die Medien so fest wie noch nie."

Unter dem Ausnahmezustand, der am 20. Juli verhängt wurde und der bis heute gilt, wurden mehr als 50.000 Menschen festgenommen und mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen oder suspendiert. Neben Militärs, Polizisten und Richtern traf es auch tausende Lehrer, Wissenschaftler und Journalisten. Auch hunderte Politiker der prokurdischen Oppositionspartei HDP wurden inhaftiert.

Die kemalistische CHP wirft Erdogan vor, mit Verhängung des Notstands am 20. Juli einen "zweiten Putsch" verübt zu haben. Ihr Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu stellt zudem die offizielle Darstellung zum 15. Juli infrage und spricht von einem "kontrollierten Putsch". Sein Vorwurf: Die Regierung wusste vorab von den Plänen der Verschwörer und ließ sie bewusst ins offene Messer laufen.

Auch in der Presse werden vermehrt Fragen gestellt. "Obwohl der Putsch fast ein Jahr her ist, scheint es nicht leicht, die Diskussion über die Geheimdienstaspekte zu beenden", schrieb der "Hürriyet"-Kolumnist Sedat Ergin. Nicht zuletzt wird gefragt, warum der Armeechef und der Geheimdienstchef nicht schneller reagierten, als sie am Nachmittag des 15. Juli von einem Offizier eine Warnung erhielten.

Offenbar waren die Verschwörer im Militär durch die Warnung gezwungen, den Putsch um einige Stunden vorzuziehen. Am Abend des 15. Juli besetzten sie eine Bosporus-Brücke in Istanbul, beschossen das Parlament und schickten Panzer auf die Straßen. Als sich Erdogan per Videoansprache aus seinem Urlaubsort an das Volk wandte, stellten sich jedoch zehntausende Türken den Putschisten entgegen.

Bei Gefechten und Zusammenstößen wurden 249 Menschen getötet und mehr als 2000 verletzt, die heute als "Märtyrer" gefeiert werden. Bis zum Vormittag des 16. Juli war der Putschversuch gescheitert. Noch bei seiner Rückkehr nach Istanbul in der Putschnacht machte Erdogan den islamischen Prediger Fethullah Gülen und seine Anhänger für den Umsturzversuch verantwortlich.

In den Tagen danach ging Erdogan daran, die Gülen-Bewegung zu zerschlagen. Der in den USA lebende Geistliche war lange ein enger Verbündeter Erdogans, doch hatten sich die beiden Männer 2013 überworfen. Gülen weist heute jede Verwicklung in den Putschversuch zurück, doch geht auch die Opposition in der Türkei davon aus, dass seine Anhänger in Militär, Polizei und Justiz dahinter stecken.

Besonders im Ausland hält sich trotzdem hartnäckig die Idee, Erdogan habe den Putsch selbst inszeniert. Viele macht misstrauisch, dass Erdogan in der Putschnacht von einem "Geschenk Gottes" sprach. Dass die USA und die EU-Staaten nach dem Putschversuch zur Wahrung des Rechts bei der Verfolgung der Putschisten mahnten, wurde in Ankara als Mangel an Solidarität beklagt.

Erdogans Verhältnis zu seinen westlichen Verbündeten ist heute zerrüttet. Mit seinem harten Vorgehen gegen seine Gegner und einer umstrittenen Verfassungsreform zur Einführung eines Präsidialsystems im April hat Erdogan zwar seine Macht gestärkt, doch zugleich hat er damit international viele Verbündete verprellt und die türkische Gesellschaft polarisiert. (AFP)