Interview mit dem Zeithistoriker und Extremismusforscher Wolfgang Benz

Europa und gegen den Extremismus – diese Schwerpunkte haben die Forschung und das Werk von Wolfgang Benz geprägt. Am 9. Juni ist der international renommierte Zeitgeschichtler 75 Jahre alt geworden. Paula Konersmann sprach mit ihm über die aktuelle Fremdenfeindlichkeit in Europa.

Herr Benz, wenn Sie zurückblicken: Wie haben sich Ihre Schwerpunkte - Extremismus- und Vorurteilsforschung - herauskristallisiert?

Wolfgang Benz: Eher zufällig. In den 1970er Jahren hat mich ein Neonazi erbost, der von einem prominenten Auschwitz-Opfer den Nachweis verlangt hat, dass die Dame wirklich in Auschwitz gewesen ist und dass Auschwitz wirklich existiert hat. Diese Frechheit hat mich dazu verleitet, ein Buch über Rechtsextremismus in Deutschland herauszugeben, das ungeheuer erfolgreich war. Daraus ist eine über Jahrzehnte anhaltende Beschäftigung mit dem Thema Rechtsextremismus entstanden.

Wie extremistisch ist Deutschland heute?

Benz: Deutschland ist nicht extremistisch. Man darf es sich nicht leicht machen: Die übergroße Mehrheit tut so, als ob das Böse nur in der Extremistenecke vorkommt. Doch es gäbe kaum Extremismus, wenn die Mitte diesem Gedankengut nicht zustimmen würde.

Was meinen Sie damit?

Benz: Demagogen brauchen ein Publikum. Wenn sich in Dresden jeden Montag 5.000 Menschen versammeln, sind das keine Extremisten. Aber es sind Menschen, die einschlägiges Gedankengut aus Ängsten heraus zustimmend zur Kenntnis nehmen. Das ist das eigentliche Problem: dass die Mitte nach rechts rückt.

Fürchten Sie, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird?

Benz: Es sieht leider alles danach aus: häufigere Übergriffe gegen Asylbewerberheime, verbale Attacken gegen Fremde - und eine unglaubliche Rohheit, die sich ausbreitet. Wenn zwei Fußballfans auf dem Bahnsteig Krach kriegen und ein Bürger schlichten will, dann stoßen sie ihn vor die einfahrende S-Bahn, wie vor kurzem in Berlin vorgekommen. Diese laufende Entgrenzung beunruhigt mich sehr.

Warum bietet gerade Fremdenfeindlichkeit einen solchen Nährboden?

Benz: Die Mehrheit braucht immer Feinde, nämlich Minderheiten, und die sind beliebig austauschbar. Das waren im 19. Jahrhundert eine zeitlang die Katholiken und später die Juden. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Antisemitismus gesellschaftsfähig und erst nach der Katastrophe des Holocaust geächtet. Heute darf man Muslime mit ähnlichen Methoden diskriminieren, ausgrenzen, beleidigen, die gegenüber Juden als hochanstößig empfunden werden. Da spreche ich als resignierter Historiker: Wir haben einen Teil der Lektion noch nicht gelernt.

Welchen?

Benz: Dass man nicht in immerwährender Reue und Scham einer einstmals verfolgten Minderheit ständig Abbitte leistet - aber zugleich Ähnliches gegenüber anderen wieder tut. Derzeit konzentriert sich die Feindseligkeit auf diejenigen, die am meisten sichtbar sind: die Flüchtlinge.

Als Sie erstmals Parallelen in den Mechanismen von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit beschrieben haben, gab es massive Kritik. Was entgegnen Sie?

Benz: Ich habe beides nie gleichgesetzt. Doch man darf nicht ein Phänomen betrachten und die Augen vor einem ähnlichen Phänomen verschließen. Ich war Gegenstand von Schmähkampagnen, als ich dies erstmals feststellte - inzwischen bekomme ich Beifall für dieselbe Erkenntnis. Wichtig ist: Man vergleicht nicht die Opfer, wenn man bestimmte Reaktionen auf Minderheiten beschreibt und versucht, daraus generalisierende Schlüsse zu ziehen.

Wie funktioniert denn die derzeitige Islamfeindlichkeit?

Benz: Jeder, der Ali heißt, gilt als frommer, praktizierender, wenn nicht gar fanatischer Muslim. Dass diese Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis kommen, aber zu einem erheblichen Teil ebenso laizistisch sind wie unsere Katholiken und Protestanten – das wird geflissentlich übersehen. Es passt nicht ins Feindbild der Gruppierungen, die derzeit am meisten Aufsehen erregen: Pegida ist die Gassen-Version, die AfD ist die Salon-Ausgabe von Unzufriedenheit und Unverständnis über unser demokratisches System, von Unbehagen gegen als bedrohlich empfundene Zustände. Ihr gemeinsamer Nenner ist das Feindbild der Muslime. Die Islamfeindlichkeit fungiert als Aushängeschild, als Bindeglied für Ängste, reaktionäre Wünsche, Europafeindlichkeit und abgestandenen Nationalismus.

Die AfD sitzt mittlerweile in mehreren Landtagen, die etablierten Parteien ringen um die angemessene Reaktion. Was sollten sie tun?

Benz: Ich rate zu Gelassenheit. Frau Petry muss nicht in jeder Talkshow sitzen und Grimassen schneiden, was dann am nächsten Tag in jeder Zeitung nachzulesen ist. Der neue Erguss von Herrn Sarrazin - einem der Stichwortgeber dieser Szene - muss nicht in jeder Tageszeitung besprochen werden, als sei es eine Offenbarung. Und die Volksparteien dürfen nicht nach rechts außen oder nach links außen schielen, sondern sie müssen Werte verkörpern und wieder glaubwürdig werden.

In anderen EU-Ländern ist der Rechtspopulismus teils noch stärker. Wie besorgt macht Sie das?

Benz: Mein Bild von Europa hängt mit meiner Sozialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen: Europa ist die die nationale Enge überwindende Idee. Dafür bin ich immer eingetreten, und daran glaube ich weiterhin. Umso trauriger und entsetzter bin ich über den momentanen Zustand Europas.

Was müsste geschehen?

Benz: Es ist Aufklärung notwendig, ungeheuer viel Aufklärung. Zum Beispiel: Minderheiten haben Rechte, und zwar keine Abfall-Rechte, sondern volle Rechte. Wie wir Sinti und Roma, Muslime oder Juden behandeln, das hat auch mit unserer eigenen Würde zu tun. Das muss von früh bis spät verkündet werden - unaufgeregt, aber deutlich.

Haben Sie einen Wunsch zu Ihrem Geburtstag?

Benz: Ich hoffe, dass sich die Egoismen nicht durchsetzen und dass um Gottes willen die Grenzen nicht wieder aufgerichtet werden, die wir mit so großen Glücksgefühlen vor wenigen Jahrzehnten niedergebrochen haben. Das ist mein größter Wunsch: dass Europa nicht als ein schöner Traum endet, der von dumpfen Nationalisten, von furchtsamen Chauvinisten, von unbelehrbaren Deutschnationalen zerstört wird. (KNA)