«Das ist Chaos»: Ägyptens Polizeigewalt setzt Regime unter Druck

Ein Fahrer, der mehr Geld haben wollte: erschossen. Ein Mann, der Drogen besessen haben soll: zu Tode gefoltert. Gewaltexzesse von Polizisten empören die Ägypter. Ein anderer Toter bringt den Präsidenten auch international unter Zugzwang. Von Benno Schwinghammer

«Hatem wird niemals bestraft.» In den sozialen Netzwerken Ägyptens stolpert man in den vergangenen Wochen unweigerlich über diesen Satz. Er spielt auf den Film «Das ist Chaos» des Regisseurs Jussef Schahin an. Darin ist Hatem ein korrupter Polizist, der in seinem Viertel Angst und Schrecken verbreitet. Er kann tun und lassen, was er will. Als Polizist wird er dafür nicht belangt.

Der Film ist nicht etwa neu. Doch Exzesse von Polizeigewalt haben den Protest zuletzt neu entfacht. So gingen landesweit Tausende Ärzte auf die Straße. In einem Ägypten, dessen autoritärer Präsident Abdel Fattah al-Sisi Demonstrationen als Gefahr seiner Herrschaft ansieht, eine Seltenheit.

Die Demos begannen, nachdem ein verletzter Polizist Ärzte und Personal in einem Krankenhaus mit seiner Waffe bedrohte - er war mit dem Befund des Doktors nicht einverstanden. Später kam der Beamte Berichten zufolge mit Verstärkung zurück und nahm den Arzt und einen Kollegen fest.

Auch wenn die Führung des Landes diese Art von Fehlverhalten gerne als Einzelfall hinstellt, vergeht fast keine Woche ohne neue derartige Meldungen. Im Februar erschoss ein Polizist einen Fahrer nach einem Streit über das Fahrtgeld. Ein wütender Mob schlug den Täter krankenhausreif und protestierte nachts vor einer Polizeiwache. Auch die Folter von Inhaftierten ist Menschenrechtsorganisationen zufolge weit verbreitet. Aufsehen erregte der Fall eines 45-jährigen Mannes, der Ende 2015 wegen angeblichen Drogenbesitzes in Luxor festgenommen wurde. Er soll von mehreren Polizisten zu Tode gequält worden sein.

Das Kairoer Nadim-Zentrum, das Gewalt- und Folteropfern hilft, legte der Organisation Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte (EIPR) zufolge eine Liste von 465 Tötungen vor, die auf den Amtsmissbrauch des Innenministeriums und der Sicherheitskräfte zurückzuführen seien. Vor kurzem wurde öffentlich, dass die Behörden die Schließung des Nadim-Zentrums planen.

Die aufgeheizte Stimmung im Land zwang Präsident Al-Sisi zum Handeln. Dem Parlament soll noch im März ein Gesetz über die Kontrolle der Polizei vorgelegt werden. «Diese Einzelfälle müssen gesetzlich verfolgt werden, um ihrem Auftreten ein Ende zu bereiten und die Täter zu bestrafen», hieß es.

Nach innen will der Präsident, dessen große Beliebtheit teilweise zu bröckeln scheint, damit beruhigen. Doch den Druck von außen spürt er seit dem mysteriösen Fall des Italieners Giulio Regeni auch von Außen. Der Doktorand verschwand Ende Januar in Kairo. Anfang Februar wurde seine verstümmelte Leiche gefunden. Der Fall wurde in Italien zum Skandal.

Die «New York Times» ließ Beamte und Zeugen zu Wort kommen, die von einer Festnahme Regenis durch Sicherheitskräfte erzählen. Der Ton aus Rom ist rau dieser Tage, denn keiner glaubt Kairos Aussage, keine Hinweise für eine Verwicklung des Sicherheitsapparates zu haben.

«Wir akzeptieren keine künstliche oder zusammengeflickte Wahrheit: Wir sind Italien und akzeptieren nie eine bequeme Wahrheit», sagte Ministerpräsident Matteo Renzi. Das diese jemals ans Licht kommt, scheint aber unwahrscheinlich.

Bei einer Gedenkveranstaltung an der italienischen Botschaft in Kairo hielt ein Ägypter ein Schild hoch: «Giulio war einer von uns und er starb wie einer von uns.» Die Menschen am Nil tragen ihren Frust mittlerweile auf die Straße, zeigen ihn aber auch im Internet. Ein Facebook-Nutzer erstellte eine - eher symbolische - Veranstaltung, für die sich mehr als 130.000 Menschen interessieren. Die Gruppe trägt den Namen «Hatem muss bestraft werden». (dpa)