Der Einbruch des Politischen ins Private

Der Israeli Etgar Keret und der Palästinenser Samir El-Youssef haben in ihren Texten gegen die Politisierung ihrer Gesellschaften angeschrieben. Jetzt ist der Band "Alles Gaza" der beiden Autoren erschienen. Von Lewis Gropp

Der Israeli Etgar Keret und der Palästinenser Samir El-Youssef haben in ihren Texten gegen die Politisierung ihrer Gesellschaften angeschrieben, um das Private vor dem Zugriff des Ideologischen zu retten. Jetzt ist der Band "Alles Gaza" mit "Geteilten Geschichten" der beiden Autoren erschienen. Von Lewis Gropp

Etgar Keret, Samir El-Youssef; Foto: Lisa Goldman
Schreiben gegen den Konsens der Mehrheitsgesellschaft an: Etgar Keret und Samir El-Youssef

​​ In liberalen westlichen Gesellschaften hat sich die Subversion in der Sphäre der Kunst schon fast zu einem Dogma entwickelt. Die Dekonstruktion von Identitäten und Weltbildern ist zu einer Art "institutionalisierten Revolution" im Mechanismus des Kunstbetriebes verkommen.

In der palästinensischen wie auch in der israelischen Gesellschaft ist dieses Kunstverständnis hingegen sehr viel weniger verbreitet; hier spielen Bestätigung und Affirmation von Identität eine wesentlich größere Rolle.

Ein Autor, der einen Außenseiter in den Mittelpunkt stellt, schreibt gegen den Konsens der Mehrheitsgesellschaft an, und genau das tun Etgar Keret und Samir El-Youssef: Sie weigern sich, ihre Figuren der kollektiven Identität zu unterwerfen; sie kreieren Anti-Helden in einem Umfeld, das seine Identität aus der vermeintlichen Größe seiner Helden und Märtyrer speist.

"Tyrannei der öffentlichen Meinung"

Als Etgar Keret 1997 die Story "Rabin ist tot" veröffentlichen ließ, blies ihm ein eisiger Wind entgegen. Anders, als es der Titel suggeriert, handelt es sich bei Rabin hier nicht um den von einem radikalen jüdischen Siedler ermordeten Premierminister Yitzhak Rabin, sondern um eine gemeine Hauskatze, die von einer Vespa überfahren wird und stirbt.

Wie auch Samir El-Youssef beklagt Keret die "Tyrannei der öffentlichen Meinung und der Politik". Er wehre sich dagegen, so Keret in einer E-Mail-Korrespondenz, dass jede private Gefühlsäußerung auf Verträglichkeit mit dem "nationalen Kontext" überprüft werde.

"Samir und ich sind in dem Sinne 'unpolitisch', indem wir gegen die reduktionistische Auffassung rebellieren, nach der die Politik die Realität vereinfachen und simplifizieren soll", erklärt Keret.

"Die Realität im Nahen Osten ist aber doch wesentlich komplexer und vieldeutiger. Realität an sich ist komplex. Diese Tatsache hat für den politischen Diskurs in Israel allerdings so gut wie keine Bedeutung – da geht es in der Regel nur darum zu bestimmen, wer Recht hat und wer nicht."

In Israel ist die Angst vor liberalen Positionen als einem Zeichen von Schwäche eine kräftige Triebfeder der nationalen Psyche, die auch starken Druck auf den öffentlichen Diskurs ausübt.

Zwar werden kritische Debatten geführt und Dissens ist erlaubt, doch als Keret und El-Youssef nach mehreren gemeinsamen Auftritten in England und Kontinentaleuropa auch nach Jerusalem kamen, um dort aus ihrem gemeinsamen Buch "Alles Gaza – Geteilte Geschichten" zu lesen, war die Aufnahme des dortigen Publikums ernüchternd, wie El-Youssef erklärt.

"Wir haben ja gar nicht damit gerechnet, hier mit offenen Armen empfangen zu werden. Denn es ist doch so: Unser Standpunkt steht im Widerspruch zur Mehrheitsgesellschaft."

Mentale Ghettoisierung der Palästinenser

Samir El-Youssef sieht in der rigiden Abgrenzungsstrategie von Seiten der Palästinenser die Gefahr der Reduktion der eigenen Identität auf die eindimensionale Rolle des Opfers.

In zahlreichen Artikeln hat er erklärt, dass nicht nur die Besatzung, sondern auch die kategorische Abwehrhaltung zur mentalen Ghettoisierung der Palästinenser beitrage und sich unter diesen Umständen niemals eine eigenständige palästinensische Kultur entwickeln werde.

In seinem Beitrag zu "Alles Gaza", der Geschichte "Der Tag, an dem die Bestie Durst bekam", nimmt El-Youssef den Kampf um diese Deutungshoheit auf.

Als Hauptfigur inszeniert er einen zerrütteten Proto-Intellektuellen, der sich einen feuchten Kehricht um den Widerstand schert, den Großteil seiner Zeit mit der Suche nach Drogen und Betäubungsmitteln verbringt, zwischendurch immer wieder versucht, ein Visum nach Deutschland zu bekommen, um dort gegebenenfalls als Zuhälter zu arbeiten, und der schließlich einer Frau nachstellt, von der er selbst behauptet, sie sehe aus "wie ein Affe".

Seinem enthusiastischen Freund Ahmad, der an einem Theaterstück über den Widerstand arbeitet und ihm erklärt, "daß die Intifadah an sich schon ein Kunstwerk ist", entgegnet der namenlose Protagonist, dass er, Ahmad, sich diese "gerechte Sache in den Arsch stecken" solle.

Trotz dieser herben Direktheit ist El-Youssefs lange Kurzgeschichte nicht vordergründig und nur in dosierten Ansätzen zotig: Mit reflektiertem Humor und mit einem schmutzigen Sprachgestus, der den behaupteten Edelmut des Widerstandes konterkariert, entlarvt er, wie die Besatzung als Metapher für die alltäglichen Sorgen herhalten muss.

"Jedesmal, wenn er [Ahmad] zu mir kam und sagte: 'Unsere Sache macht eine ihrer schwärzesten Zeiten durch', wußte ich, daß er sich mit seiner Mutter gestritten haben mußte und die alte Kuh ihn wieder mal als nutzlos beschimpft hatte."

"Können Tote sterben?"

El-Youssef schießt frech und polemisch aus der Hüfte und lässt seinen Protagonisten die Diskussionskultur arabischer Intellektueller verunglimpfen: "[I]ch fragte mich: Können Tote sterben? Ich dachte, eine solche Frage könnte ein gutes Diskussionsthema unter arabischen Intellektuellen sein. Irgendein Journalist von einer bescheuerten Zeitung könnte sich dieses Themas annehmen: Können Tote sterben?"

Jemand, der so zielgenau einen wunden Punkt trifft, gilt schnell als Außenseiter und Nestbeschmutzer. Samir El-Youssef lebt seit 1990 in Großbritannien.

Die Initiative für das Projekt ging von El-Youssef aus: Nach dem Ausbruch der zweiten Intifadah rief er seinen Freund in Tel Aviv an, um ihn für ein gemeinsames Projekt zu gewinnen, das ein starkes symbolisches Zeichen setzen und nachhaltiger wirken sollte als die zahllosen und schnell verhallenden Aufrufe zur Aussöhnung.

"Unser Projekt", so El-Youssef "ist so was wie ein Versuch zweier Autoren, diejenigen zu motivieren, die die Hoffnung auf Frieden noch nicht aufgegeben haben."

Lewis Gropp

© Qantara.de 2006

Etgar Keret wurde 1967 in Tel Aviv geboren und veröffentlicht seit 1991 Kurzgeschichten und Comics. Seine Anthologien sind in sechzehn Sprachen übersetzt. Er schreibt fürs Fernsehen, lehrt an der Filmakademie in Tel Aviv und hat über 40 Kurzfilme produziert. Keret wurde mit dem Literaturpreis des israelischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet und erhielt zahlreiche Preise für seine Filme.

Samir El-Youssef wurde 1965 im Libanon geboren und wuchs im Flüchtlingslager Rashidia auf. Er hat zwei Bände mit Kurzgeschichten auf Arabisch veröffentlicht und schreibt regelmäßig für arabische und englische Zeitungen und für internationale Literaturmagazine. El-Youssef lebt seit 1990 in London, wo er auch Philosophie studiert hat. 2005 erhielt er den Tucholsky-Preis des Schwedischen PEN.

Etgar Keret, Samir El-Youssef: "Alles Gaza - Geteilte Geschichten", Sammlung Luchterhand. Aus dem Englischen von Barbara Linner, Verena Kilchling. 144 Seiten, 8,00 Euro.

Qantara.de

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