Offen sein für alle Stimmen des Universums

Der ambitionierte Istanbuler Radiosender Açık Radyo steht für Meinungsvielfalt und unabhängigen Journalismus in der Türkei. Claudia Hennen hat die Radiomacher in Istanbul besucht.

Ömer Madra moderiert eine Radiosendung im Istanbuler Açık Radyo; Foto: &copy bianet.org
"Wir behaupten nicht, dass wir objektiv sind. Doch wir sind immer auf der Seite der Schwachen!" - Ömer Madra während einer Moderation im Istanbuler Açık Radyo.

​​ Montagmorgen, kurz nach acht Uhr. Die Mega-City Istanbul erwacht. Im kleinen Studio von Açık Radyo, zu deutsch: "Offenes Radio", geht es bereits geschäftig zu. Die Moderatoren Ömer Madra und Avi Haligua diskutieren die Schlagzeilen des Tages.

Gerade sind wieder mehrere Verdächtige im Fall Ergenekon verhaftet worden. Seit Jahren hält der Prozess gegen vermeintliche Landesverräter die Türkei in Atem. Neben zahlreichen Militärs sitzen auch bekannte Journalisten in Untersuchungshaft. "Nicht immer geht der türkische Staat dabei nach rechtsstaatlichen Kriterien vor", kommentiert Ömer Madra das Geschehen.

Menschenrechts- und Umweltthemen bilden den Schwerpunkt der Berichterstattung von Açık Radyo. "Wir behaupten nicht, dass wir objektiv sind. Doch wir sind immer auf der Seite der Schwachen!", stellt Ömer Madra klar.

Der 65-Jährige mit weißem Haar trägt Jeans und Turnschuhe. Er ist der bekannteste Umweltaktivist der Türkei und Menschenrechtsexperte. Seit 15 Jahren leitet er den Istanbuler Sender, der unter Intellektuellen mittlerweile Kultstatus genießt. Denn hier erfahren sie Dinge jenseits der herkömmlichen Berichterstattung.

Die Programmmacher sind eng mit Nichtregierungsorganisationen und Bürgerrechtlern im ganzen Land vernetzt und erhalten so Informationen aus erster Hand.

Unabhängigkeit von großen Medienkonzernen

An diesem Montagmorgen erreicht die Redaktion beispielsweise eine Mail von der Schwarzmeerküste. Ein Umweltaktivist berichtet, dass Polizisten ihn bei einer friedlichen Demonstration verprügelt hätten. Er hatte Unterschriften gegen ein geplantes Wasserkraftwerk gesammelt.

Logo Açık Radyo
Glaubwürdige Informationen aus erster Hand: Açık Radyo bürgt für einen staatsfernen, engagierten Journalismus - jenseits der allgegenwärtigen Monopolisierung des Medienmarktes in der Türkei.

​​ Ömer Madra und Avi Haligua lesen den Augenzeugenbericht am Mikrofon vor und vergleichen ihn mit den dürftigen Agenturmeldungen zum Thema.

Die Morgensendung "Açık Gazete" ist das Aushängeschild des Istanbuler Radiosenders. Die Moderatoren hinterfragen die türkische Presse kritisch, stellen ihr ausländische Meinungen und Augenzeugen-Berichte gegenüber.

Avi Haligua wälzt jeden Morgen einen dicken Stapel internationaler Zeitungen. Meinungsvielfalt sei hierzulande keine Selbstverständlichkeit, erklärt er. Zwei Drittel des türkischen Zeitungsmarktes gehörten etwa zur Doğan-Mediengruppe:

"Wir versuchen zu erfassen, was hinter den Meldungen großer Medienkonzerne steht. Wenn wir eine englische und eine französische Zeitung nehmen und mit der innertürkischen Presse spiegeln, dann sieht die Geschichte meist ganz anders aus."

Der 32-jährige Journalist arbeitet ehrenamtlich beim Açık Radyo, genauso wie seine rund 200 anderen Kolleginnen und Kollegen. Nur die Verwaltung, die Sendetechnik und der Chefredakteur beziehen ein Gehalt, insgesamt sind es 28 Angestellte.

Seit sechs Jahren kommt Avi morgens um halb sieben Uhr in die Redaktion und geht wenige Stunden später zu seinem Broterwerbs-Job bei einer Umweltorganisation.

Oft wird er gefragt, warum er das tue. Er könne mittlerweile etwas bewirken und diesen Einfluss dürfe er nicht einfach aufgeben, antwortet er dann und denkt an die Flut von Hörerpost, die täglich die Redaktion erreicht: "Jemand muss das tun. Dieses Radio ist der einzige wirklich unabhängige Sender in der ganzen Türkei."

Bukowski-Lesungen on air

Niemals würde Açık Radyo staatliche Förderung annehmen, erklärt Ömer Madra. Denn der Staat übe Druck auf alternative Medien aus. Im September 2000 wurde Açık Radyo durch die türkische Medienaufsichtsbehörde geschlossen. Die Begründung: Der Sender habe gegen die familiären Sitten verstoßen, da er eine Kurzgeschichte von Charles Bukowski gesendet hatte.

Açık Radyo-Hörfunkstudio in Istanbul; Foto: Claudia Hennen
Analyse und Kritik der türkischen Presse: Die Morgensendung "Açık Gazete" ist eines der zentralen Aushängeschilder des Radiosenders.

​​ Nach Protesten durfte Açık Radyo zwei Wochen später den Betrieb wieder aufnehmen. Bei dem Gedanken daran muss Chefredakteur Ömer Madra schmunzeln: "Wir spielten einen wunderbarer Protestsong der Roma, über einen Limonadenverkäufer, der singt: Niemand kann mir was! Und die Hörer begrüßte ich mit den Worten: Wo waren wir stehen geblieben?"

Vor über 15 Jahren, am 13. November 1995, ging Açık Radyo zum ersten Mal auf Sendung. Die gemeinnützige Gesellschaft wurde von über 90 Eigentümern als Kollektiv gegründet, bis heute halten sie die gleichen Anteile daran. Diese Struktur soll die journalistische Unabhängigkeit garantieren.

Mittlerweile hören etwa 60.000 Stamm- und bis zu 200.000 Gelegenheitshörer am Tag das Vollzeitprogramm. Chefredakteur Ömer Madra ist stolz darauf, dass der Sender sich in wesentlichen Teilen durch Spenden seiner Hörer finanziert. Diese machen mittlerweile 45 Prozent des Budgets aus – neben den Einnahmen aus der Werbung.

Auch deshalb ist das Programm "bürgernah" gestaltet. Taxifahrer oder Teeverkäufer kommen hier genauso zu Wort wie der US-amerikanische Globalisierungskritiker Noam Chomsky oder der israelische Friedensaktivist Uri Avnery.

Als 1999 die Erde 100 Kilometer östlich von Istanbul bebte und Tausende Menschen starben, wurde Açık Radyo kurzerhand zu einer Art Katastrophenzentrum umfunktioniert. Von morgens bis abends wurden Berichte über die Suche nach Verschütteten gesendet.

Internationale Kooperationen

Erol Önderoğlu; Foto: Arian Fariborz
Pressefreiheit in Gefahr: Seit der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink hat sich die Situation von Medienschaffenden in der Türkei nicht verbessert, klagt Erol Önderoğlu von "bianet.org".

​​"Offen sein für alle Stimmen des Universums" – so lautet das Motto des Senders. Auch in musikalischer Hinsicht: Auf der Istanbuler Frequenz 94,9 mischen sich Reggae und Klassik, türkischer Pop und Weltmusik. Der Radiosender kooperiert mit Rundfunkanstalten weltweit, nicht nur mit dem französischen Radio France Internationale.

Seit vielen Jahren strahlt Açık Radyo frühmorgens eine Viertelstunde lang auch das türkische Programm der Deutschen Welle aus.

Die EU-Kommission hatte in ihrem Fortschrittsbericht im November 2010 die Türkei erneut in punkto Meinungsfreiheit scharf gerügt. Erol Önderoğlu, Korrespondent von "Reporter ohne Grenzen" und Journalist beim EU-finanzierten türkischen Onlinemagazin "bianet.org", kann dem nur zustimmen. Derzeit säßen fünf Journalisten aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit in Haft.

Insgesamt seien sogar über dreißig Journalisten im Gefängnis. Sie ständen im Verdacht, an terroristischen Aktionen beteiligt gewesen zu sein. Seit der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink habe sich die Situation nicht wesentlich verbessert, klagt Önderoğlu. Deshalb seien kritische Bürgermedien wie Açık Radyo sehr wichtig.

Aber auch diese müssten immer wieder um ihre Existenz bangen – ein Zeichen dafür, dass der Wert der Meinungsvielfalt in der Türkei nicht ausreichend anerkannt sei.

Claudia Hennen

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Qantara.de

Pressefreiheit in der Türkei
Journalisten unter Druck
Obwohl die Zahl der Inhaftierungen von Journalisten in der Türkei rückläufig ist, bedrohen bis heute einige Artikel des türkischen Strafrechtes massiv die Pressefreiheit im Land. Davon sind vor allem unabhängige und staatskritische Medienschaffende betroffen. Von Arian Fariborz

Türkisches Internetportal Bianet
Unabhängiger Journalismus im Aufwind
In der Türkei müssen Journalisten nach wie vor fürchten, wegen des Straftatbestands der "Beleidigung des Türkentums" verurteilt zu werden. Trotzdem gibt es Journalisten, die es wagen, offen über sensible Themen zu berichten. So auch die Mitarbeiter der Internet-Plattform Bianet. Hülya Köylü hat die Redaktion in Istanbul besucht.

Tabuthemen in der Türkei
Willkürlicher Ermessensspielraum
Immer wieder werden türkische Intellektuelle angeklagt, weil sie vermeintliche Tabuthemen verletzt haben. Häufig heißt die Anklage "Beleidigung des Türkentums", Instrument der Anklage ist der berüchtigte Paragraph 301. Jürgen Gottschlich über Tabus, die längst keine mehr sind