Im Fadenkreuz der Nationalisten

Nach dem Mord an Hrant Dink wird die anhaltende ultra-nationalistische Stimmung in der Türkei für viele Intellektuelle immer unerträglicher und gefährlicher, wie Gunnar Köhne aus Istanbul berichtet.

Nach dem Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink wird die anhaltende ultra-nationalistische Stimmung in der Türkei für viele Intellektuelle immer unerträglicher und gefährlicher, wie Gunnar Köhne aus Istanbul berichtet.

Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk trauert um den ermordeten armenischen Schriftsteller Hrant Dink in Istanbul; Foto: AP
Nach der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink fürchten immer mehr Intellektuelle in der Türkei, zur Zielscheibe ultra-nationalistischer Kräfte zu werden.

​​"Der Rücken eines Türken lässt sich nicht verbiegen", heißt es in einem Schlager, der ein schockierendes "YouTube"-Video musikalisch untermalt:

Unter dem Titel "Diese Botschaft sollte endlich jeder verstehen" sind zunächst Fotos des ermordeten armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink sowie Porträts des mutmaßlichen 17jährigen Täters zu sehen.

Dann folgen Aufnahmen derjenigen, denen diese Botschaft offenbar gelten soll: Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und seiner Schriftstellerkollegin Elif Safak.

Beide hatten sich in der Vergangenheit kritisch mit dem Massenmord an den Armeniern während des ersten Weltkrieges auseinandergesetzt und waren dadurch zur Zielscheibe der Ultranationalisten geworden. Für den Film verantwortlich zeichnet eine Gruppe namens "Türkische Rache-Brigaden".

Pamuk kehrt der Türkei vorerst den Rücken

Die türkische Rechte zeigt sich immer aggressiver – seit dem Mord an Hrant Dink Mitte Januar stehen neben Orhan Pamuk ein halbes Dutzend Intellektuelle unter Polizeischutz. Pamuk ist die aufgeladene Atmosphäre dennoch zu viel geworden – er verließ die Türkei für unbestimmte Zeit Richtung USA.

Zehn Monate vor den Parlamentswahlen liegt die Graue-Wölfe-Partei MHP Umfragen zufolge bei 15 Prozent der Stimmen. Besonders unter türkischen Jugendlichen ist rechtsradikale Gesinnung wieder salonfähig – das Internet entwickelt sich zu einem Marktplatz für türkische Jungfaschisten. Und zahlreiche Fans des Fußball-Erstligisten Trabzon tragen neuerdings demonstrativ eine weiße Wollmütze – eine solche hatte auch der mutmaßliche Mörder Hrant Dinks am Tag des Attentats getragen.

Für den liberalen Teil der türkischen Gesellschaft ist der Mord an Hrant Dink und der Umgang damit zur gewaltigen Herausforderung geworden. Unter dem Slogan "Wir sind alle Armenier" geriet die Beerdigung Hrant Dinks zu einer großen Demonstration gegen Rassismus, an der über einhunderttausend Menschen teilnahmen – das scheint die extreme Rechte des Landes zusätzlich provoziert zu haben.

Nationalistische Gegenbewegung

Der Anwalt Kemal Kerincsiz, Vorsitzender einer nationalistischen Anwaltsvereinigung, die Hrant Dink, Orhan Pamuk und etliche andere mit Klagen wegen " Herabsetzung des Türkentums" vor Gericht brachte, mokierte sich öffentlich darüber, dass "auf der Demonstration nicht eine einzige türkische Fahne getragen wurde". Politiker aller Parteien zeigten sich befremdet darüber, dass der Protestmarsch unter dem Motto "Wir sind alle Armenier" stand.

Teilnehmer an der Trauerveranstaltung halten Plakate mit dem Porträt Dinks; Foto: AP
Machtvolle Demonstration - an der Beerdigung des ermordeten Hrant Dink beteiligten sich rund 100.000 Menschen in Istanbul

​​Die Forderungen nach Abschaffung des inzwischen berühmt-berüchtigten Strafrechtsparagrafen 301, der eine "Herabsetzung des Türkentums" unter Strafe stellt, werden immer lauter.

Erst durch die Anklagen wegen " Herabsetzung des Türkentums" seien Hrant Dink, Orhan Pamuk und etliche andere zur Zielscheibe der Nationalisten geworden. Doch die Regierung zeigt sich zögerlich: Ministerpräsident Erdogan hat Kritiker zwar zu einem Dialog über eine Reform des Paragrafen eingeladen – eine vollständige Streichung des Straftatbestandes lehnt er allerdings ab.

Offenbar möchte Erdogan vor den Parlamentswahlen im November alles vermeiden, was von der nationalistischen Opposition alles Zugeständnis an die Europäer ausgeschlachtet werden könnte.

Schleppende Aufklärungsarbeit im Fall Hrant Dink

Die Aufklärung der Hintergründe des Mordes an Hrant Dink hat Erdogan als "heilige Pflicht" bezeichnet – doch auch da geht es nicht recht voran. Vielmehr werden immer mehr Details bekannt, die nahe legen, dass der Täter im Staatsapparat Helfer hatte.

So arbeitete einer seiner Freunde als informeller Polizeimitarbeiter. Die Beteiligten prahlten offenbar schon vor Monaten mit ihrem Plan, den "Vaterlandsverräter" Hrant Dink zu erschießen – davon erhielt auch die Polizei Kenntnis, blieb aber untätig.

Doch die Debatte über die Konsequenzen aus dem Mord an Hrant Dink geht in der Türkei mittlerweile über die Forderung nach Polizeischutz für kritische Intellektuelle und Gesetzesreformen hinaus. Kritiker machen auch die Medien für die derzeitige rechte Stimmung im Land verantwortlich. In Fernsehen und Kino erfreuen sich derzeit zahlreiche rechte Rambo-Serien und Heldengeschichten aus dem Ersten Weltkrieg großer Beliebtheit.

Vor allem aber müsse sich etwas in Schule und Erziehung ändern, fordert die Istanbuler Erziehungswissenschaftlerin Neyyir Berktay:

"Wir sind es gewohnt, in dem Anderen, dem Ausländer immer zuerst einen Feind und Schuldigen zu sehen. Außerdem fehlt uns das kritische Denken – ohne zu hinterfragen, glauben wir sofort, was wir hören. Gepaart mit Armut und Hoffnungslosigkeit unter Jugendlichen sind solche Einstellungen eine große Gefahr."

Gunnar Köhne

© Qantara.de 2007

Qantara.de

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