Ort für den Dialog der Musikkulturen

Das Musikzentrum CMAM bei Tunis hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Motor für den europäisch-arabischen Kulturaustausch entwickelt. Das Zentrum, das im Wohnpalast "Ennejma Ezzahra" in Sidi Bou Said untergebracht ist, beherbergt die nationale Phonotek und ist Ort von zahlreichen internationalen Konzerten. Von Martina Sabra

Garten im Ennejma Ezzahra-Palast; Foto: CMAM
Der Wohnpalast "Ennejma Ezzahra", in dem das CMAM untergebracht ist, entstand aus dem Wunsch, die andalusisch-arabische Zivilisation wieder zu beleben.

​​ Das Künstlerdorf Sidi Bou Said ist eins der beliebtesten Ziele ausländischer Touristen in Tunesien. Die verwinkelten Gassen mit den andalusisch anmutenden weißen Häusern, die Kaskaden leuchtendroter Bougainvillea auf den Mauern und der herrliche Meeresblick ziehen die Menschen magisch an. Nur wenigen Besuchern ist dabei bewusst, dass Sidi Bou Said auch eines der aufregendsten Kulturprojekte der gesamten Mittelmeerregion beherbergt.

In "Ennejma Ezzahra" (Venusstern), dem weitläufigen, sorgfältig restaurierten Wohnpalast des Barons Rodolphe d'Erlanger (1878-1932), hat das tunesische Kulturministerium das "Centre des Musiques Arabes et Méditéranéennes", kurz CMAM, untergebracht.

Das CMAM hat viele Aufgaben: die Sammlung tunesischer Musikstücke, die Archivierung aller musikalischen Dokumente in der nationalen Phonotek, die Pflege des künstlerischen und musikwissenschaftlichen Erbes des Barons d'Erlanger, der Betrieb des Museums und die Organisation von Konzerten in den Innenräumen des Wohnpalastes.

Vermittler zwischen Orient und Okzident

Darüber hinaus hat sich das CMAM in den letzten Jahren zu einem wichtigen Motor für den musikalischen Austausch zwischen Europa und der arabischen Welt entwickelt: "Für die westlichen jungen Musiker, die bei uns an Workshops teilnehmen, ist die erste Begegnung mit arabischer Musik oft wie eine Offenbarung," erklärt Mounir Hentati, Kommunikationschef und stellvertretender Direktor des CMAM. "Und die Teilnehmenden aus Tunesien sind froh über die Möglichkeit, Jazz oder Klassik aus erster Hand lernen zu können."

Das hat unter anderem dazu geführt, dass junge Tunesier mittlerweile nicht mehr ins Ausland müssen, wenn sie Jazz oder ein bestimmtes Instrument lernen wollen. "Einige tunesische Teilnehmer unserer Meisterklassen und Workshops unterrichten mittlerweile selbst an staatlichen tunesischen Musikschulen", sagt Hentati.

Ansicht von Sidi Bou Said; Foto: Wikimedia Commons
Das Künstlerdorf Sidi Bou Said ist eins der beliebtesten Ziele ausländischer Touristen in Tunesien - und beherbergt das Kulturprojekt "Centre des Musiques Arabes et Méditéranéennes".

​​ Wenn der Erbauer des Palastes das hören könnte, wäre er vermutlich entzückt. Denn der Maler und Musikwissenschaftler Rodolphe d'Erlanger, der von 1910 bis zu seinem Tod 1932 in Sidi Bou Said lebte, war selbst ein Vermittler zwischen Orient und Okzident. Gemeinsam mit tunesischen Musikern verfasste er eine sechsbändige Reihe über die Grundlagen der klassischen arabischen Musik, die bis heute musikwissenschaftlich als Standardwerk gilt, und er war auch maßgeblich an der Planung des ersten arabischen Musikkongresses 1932 in Kairo beteiligt.

Frei von Exotismus

Dass der Spross einer französisch-britischen Adelsfamilie mit deutschen Wurzeln sich 1910 ausgerechnet in dem winzigen Dorf an der tunesischen Nordküste niederließ, hatte mehrere Gründe.

Zum einen hatte d'Erlangers Vater als Banker in Paris mit den tunesischen Beys Geschäfte gemacht und dabei ausgedehnte Ländereien in Tunesien erworben. Zum anderen hatte der junge Rodolphe gesundheitliche Probleme.

Doch d'Erlangers Motive für die Übersiedlung nach Tunesien waren nicht nur praktischer Natur: Der junge Künstler, der bereits 1905 mit Frau und Kind monatelang durch Ägypten gereist war, empfand eine tiefe Faszination für den Orient. D'Erlanger war dabei allerdings kein zivilisationsmüder Europäer, der im Orient den spirituellen Kick suchte. Seine Begeisterung für die arabische Welt mündete in tiefe menschliche Beziehungen.

Die Porträts, die d'Erlanger von seinen tunesischen Nachbarn, Freunden, und Mitarbeitern malte, sind frei von Exotismus und zeugen von Respekt vor den einheimischen Menschen und ihrer Kultur.

Wiederbelebung der andalusischen Zivilisation

D'Erlanger war offenbar von dem Wunsch beseelt, die andalusisch-arabische Zivilisation wiederzubeleben, oder zumindest das, was er und seine Zeitgenossen sich darunter vorstellten. Der Palast "Ennejma Ezzahra" wurde zur Basis für dieses Projekt. Der Maler studierte die wichtigsten Bauwerke des arabischen Spanien. In der Altstadt von Tunis zeichnete er ganze Gebäude en détail ab. Aus all dem schuf er seine eigene Version von Al-Andalus: einen im Grundriss arabischen Wohnpalast mit arabisch-italienisch-britischer Innenausstattung, für einen perfekt west-östlichen Lebensstil.

Baron Rudolphe d'Erlanger; Foto: www.umbc.edu
Der Maler und Musikwissenschaftler Rodolphe d'Erlanger, der von 1910 bis zu seinem Tod 1932 in Sidi Bou Said lebte, war ein Vermittler zwischen Orient und Okzident.

​​ Nach dem Tod d'Erlangers bewohnte seine italienischstämmige Witwe den Palast, doch im Lauf der Jahrzehnte sahen sich die Erben immer weniger in der Lage, für den Unterhalt und die Pflege des Anwesens zu sorgen.

Nachdem sich zeitweise der italienische Staat für den Komplex interessierte, kaufte 1989 der tunesische Staat den Palast und erklärte ihn zum nationalen Denkmal. Namhafte tunesische Künstler, darunter der weltberühmte Lautenist Anwar Brahem und der tunesische Dichter und Maler Ali Louati setzten sich dafür ein, dass nicht nur ein Museum entstand, sondern ein multidisziplinäres, dynamisches Projekt – mit Erfolg.

Die Bilanz des CMAM kann sich bislang sehen lassen. Die Gemälde des Barons wurden 2007 aufwändig restauriert und sind jetzt wieder im Wohnpalast zu bewundern, der als Museum täglich einer begrenzten Zahl von Besuchern offensteht.

Eigenproduktionen und internationale Begegnungen

Die nationale Phonotek umfasst mittlerweile 10.000 Objekte und platzt aus allen Nähten.

Die ältesten Stücke verdankt das Archiv einem Deutschen – der Musikethnologe Paul Träger zeichnete 1903 in Tunesien mit einem Wachszylinder volkstümliche Lieder auf: "Ich habe das Material bei einem Besuch des deutschen Phonogramm-Archivs in Berlin Dahlem entdeckt", erklärt Munir Hentati. Er wünscht sich dringend mehr Mittel für musikwissenschaftliche Forschungen. "Bei meinem Besuch in Berlin habe ich erfahren, dass deutsche Forscher während des ersten Weltkrieges mit tunesischen Kriegsgefangenen deren Liedtexte, Melodien und Rhythmen aufzeichneten."

Eingangstor des Ennejma Ezzahra-Palasts; Foto: CMAM
Das CMAM hat viele Aufgaben: unter anderem die Sammlung tunesischer Musikstücke und die Archivierung musikalischer Dokumente in der nationalen Phonotek.

​​In deutscher Sprache sind diese Forschungen teilweise wissenschaftlich aufgearbeitet worden. In Tunesien hingegen sei über die Interviews und das dabei gesammelte Material so gut wie nichts bekannt, kritisiert Hentati.

Die musikalische Konzeption des CMAM hat sich über die Jahre gewandelt. "In den ersten Jahren haben wir uns auf Eigenproduktionen mit traditioneller Musik konzentriert", erzählt Mounir Hentati. Mittlerweile liegt der Schwerpunkt auf internationalen Begegnungen mit öffentlichen Konzerten und Meisterklassen. Unter dem Titel "Couleurs" treffen sich einmal jährlich Jazz-Solisten aus Belgien und Tunesien und andern Ländern.

In der Reihe "Jeunes Virtuoses" kommen mit französischer Unterstützung junge Instrumentalisten aus dem klassischen Fach zusammen – auch junge Musizierende aus Deutschland waren schon dabei. Eine weitere Veranstaltungsreihe ist der tunesischen Musik gewidmet, und im Rahmen von "Musiqaat" (Musiken) treten Weltmusik-Ensembles von allen fünf Kontinenten auf.

"Ich wünsche mir, dass dieses Zentrum nicht nur den Austausch zwischen der arabischen Welt und Europa fördert, sondern mit der ganzen Welt", sagte der berühmte tunesische Lautenist Anwar Brahem bei der Gründung des CMAM. Wie schön, dass Wünsche manchmal wahr werden!

Martina Sabra

© Qantara.de 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Qantara.de

Internationales Festival für geistliche Musik in Fès
Vom Geheimnis zur Offenbarung
Seit 1994 findet das Festival Musiques Sacrées du Monde in Fèz statt: seit diesem Jahr erklingen hier nicht mehr nur islamische, jüdische und christliche Lieder, sondern auch buddhistische, hinduistische und animistische. Detlef Langer war vor Ort.

Gnawa-Festival in Essaouira
Alle guten Geister
Schon in den 1960er Jahren wurden Musiker aus aller Welt zu grenzübergreifenden musikalischen Experimenten nach Marokko gelockt. Das Festival in Essaouira steht ganz in dieser Tradition. Andreas Kirchgäßner hat sich auf dem diesjährigen Festival umgesehen.

Jordi Savall und Montserrat Figueras
Jerusalem, Stadt der zwei Frieden
Jordi Savall und Montserrat Figueras, zwei renommierte Künstler der Alten Musik, haben ein Album produziert, das zur Entdeckung der jüdischen, christlichen, arabischen und osmanischen Musik-Traditionen der Stadt Jerusalem einlädt. Lewis Gropp stellt das interkulturelle Musikprojekt vor.

Dossier
Musikwelten
In der islamischen Welt und Europa hat sich längst eine eigenständige, moderne Musikszene entwickelt, die sich fernab von Bauchtanz- und Folkloreklischees bewegt. In diesem Dossier stellen wir einige ihrer wichtigsten Akteure, Stilrichtungen und Begegnungen vor.