Leidenschaftlicher Appell für türkisch-kurdischen Dialog

In ihrem Roman "Der schmale Pfad" erzählt die türkische Autorin Ayse Kulin vom Leben zweier Frauen, die sich auf zwei Seiten der türkischen Gesellschaft gegenüber stehen, aber dennoch durch das Schicksal eng miteinander verbunden sind. Eine Rezension von Volker Kaminski

Ayse Kulin; Foto: Ömer Akcay
"Es gelingt Ayse Kulin, den großen türkisch-kurdischen Konflikt sowohl anhand privater Geschichten als auch in größeren historischen Geschehnissen packend in Szene zu setzen" lobt Volker Kaminski.

​​ Dieses Interview ist ihre große Chance. Nevra Tuna, beruflich und privat in die Sackgasse geratene türkische Journalistin, betritt ein Gefängnis, um ein von einflussreicher Stelle arrangiertes Gespräch mit Zelha Bora, einer inhaftierten prominenten kurdischen Politikerin, zu führen. Von ihrer Reportage über die wegen Separatismusvorwurf seit Jahren einsitzende Zelha verspricht sich Nevra die Rettung ihrer Karriere. Doch der Verlauf ihres Gesprächs zeigt schnell, wie schwierig dieses Unterfangen ist; zu groß sind die politischen Differenzen zwischen der türkischen und kurdischen Seite, allzu schnell werden gegenseitige Vorwürfe laut.

Doch ehe das Gespräch vorzeitig beendet ist, die kurdische Aktivistin sich abwendet, um in ihre Zelle zurückzukehren, gibt sich Nevra zu erkennen: vor fünfunddreißig Jahren waren die beiden Frauen enge Freundinnen, zwei Mädchen, die fünf Jahre lang im selben Dorf lebten, durch nichts zu trennen waren, Blutsfreundschaft schlossen und einander tatsächlich nie vergessen haben.

Ein kühner Brückenschlag

Mit dieser erzählerischen Grundidee gelingt Ayse Kulin ein Brückenschlag zwischen schier unüberwindbaren kulturellen und politischen Gegensätzen. Wie weit entfernt die Welten der Frauen im selben Land wirklich liegen, wie unterschiedlich ihre Entwicklung seit ihrer gemeinsam verbrachten Zeit verlaufen ist, zeigt das nach anfänglichen Hindernissen in Gang kommende Gespräch, das voller Dramatik, Leidenschaft und Schmerz ist, aber auch von wieder geweckten schönen Erinnerungen erfüllt ist und sich über die gesamte Romanlänge erstreckt.

In jenem ostanatolischen Dorf, in dem die beiden Mädchen miteinander ihre Kindheit verbrachten, arbeitete Nevras Vater als Landrat. Auf diese Weise kam er in Kontakt mit der kurdischen Familien. In diesen Familien ist es Männern gestattet neben ihren Ehefrauen auch andere Nebenfrauen zu haben; es gelten mitunter archaische Regeln, bei denen Blutrache und Ehrenmorde keine Seltenheit sind.

Ein Leben gegen tausend Widrigkeiten

Für die Mädchen ist eine Schulbildung nicht vorgesehen – doch eine Ausnahme gibt es für Zelha, die zusammen mit Nevra die Grundschule besuchen darf. So erhält das kurdische Mädchen die Möglichkeit sich in einem bestimmten Umfang zu bilden, auch wenn sie nach der Abreise der Landratsfamilie ihre Ausbildung nicht fortsetzen kann und stattdessen für die Arbeit auf dem Feld eingesetzt wird.

​​ Zelha findet sich mit den Repressalien nicht ab und auf abenteuerliche Weise gelingt ihr die Flucht mit einem Jungen in eine andere Stadt. Doch nach einer Fehlgeburt scheitert dieser Weg und Zelha kehrt reumütig in ihr Dorf zurück, wo sie vor der Blutrache ihrer Brüder nur durch die Autorität ihres Großvaters bewahrt wird.

Zelha wird mit einem vierzigjährigen Witwer verheiratet, der bereits Kinder hat. Doch mit ihm scheint sie glücklich, zieht mit ihm nach Ankara und wird Mutter von drei Kindern. Als ihr Mann als kurdischer Abgeordneter in Schwierigkeiten gerät, kommt Zelha mit der Politik in Konflikt; sie verschreibt sich seiner Sache, lässt sich ins Parlament wählen und wird kurz darauf wegen separatistischer Äußerungen verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Das Gespräch der beiden Frauen umkreist nicht nur Zelhas Lebensschicksal, sondern beleuchtet auch Nevras sehr gegensätzliche Existenz. Von Nevra, die das moderne Leben einer aufgeschlossenen Türkin führt, erfährt der Leser viele Details, es wird klar, dass auch sie keinen einfachen Weg hatte.

Kleine Geheimnisse als narrative Pointe

Anfänglich mit ihrem Ehemann glücklich, scheitert ihre Ehe jedoch, da Nevra sich in einen anderen verheirateten Mann verliebt und an der Langeweile ihrer Ehe leidet. Sie hat zwar nicht mit den strengen Gesetzen einer rückständigen Stammesgesellschaft zu kämpfen, findet aber trotz persönlicher Freiheit und anspruchsvollem Beruf zu keinem ausgeglichen Leben.

Dass sie sich nicht traut ihrer wieder gefundenen Freundin zu erzählen, dass sowohl ihre Eltern als auch sie selbst eine Scheidung hinter sich hat, gehört zu den kleinen, einfühlsamen Pointen dieses ergreifenden Romans.

Es gelingt Ayse Kulin den großen türkisch-kurdischen Konflikt sowohl anhand privater Geschichten als auch in größeren historischen Geschehnissen, die fast die gesamte Geschichte der Türkei berühren, packend in Szene zu setzen. Dabei wird die im Vordergrund stehende Interviewsituation immer wieder durch Rückblenden unterbrochen, die sich unterschiedlichen Aspekten im Leben der beiden Protagonisten widmen.

Es ist vor allem das große literarische Können Kulins, durch das die weit gespannte Erzählabsicht zusammengehalten wird.

Kulin, geboren 1941, ist in der Türkei eine sehr bekannte Verfasserin von Romanen, Erzählungen und Biografien. Ihre Werke sind Bestseller, der 2005 erschienene Roman "Der schmale Pfad" wurde bereits ins Englische übersetzt. Kulin hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten und auf ihre Stimme wird in der Türkei gehört – gerade auch bei einem Stoff mit derartiger Brisanz.

Dass ihr Roman keine Antworten geben kann auf die ungelösten Fragen im Kurdenkonflikt liegt auf der Hand. Er ist aber mehr als ein politischer Roman, der sich in der Wiedergabe bekannter Konfliktlinien erschöpft – ein leidenschaftlicher Appell zum gegenseitigen Dialog, ein Plädoyer für die Bildung unterdrückter Mädchen im Osten der Türkei und eine Aufforderung auf jedwede Gewalt zur Konfliktlösung zu verzichten.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2010

Ayse Kulin: "Der schmale Pfad", Roman, Unionsverlag, 2010

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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