Der Zensur die lange Nase zeigen

Politisch brisante Filme und TV-Serien aus Syrien erobern den arabischen Markt. Nun ist der Film "The Long Night" – der erste syrische Spielfilm, der das Schicksal politischer Häftlinge beleuchtet – in der Zensur hängen geblieben. Übers Satellitenfernsehen erreicht er dennoch sein Publikum - auch in Syrien. Von Susanne Schanda

​​ Vier Männer in blauer Gefängniskluft, mit ungepflegten grauen Haaren und Bartstoppeln sitzen in ihrer Zelle und trinken Tee. Das Licht ist dämmerig, von den Mauern blättert der Verputz. Seit 20 Jahren sind sie hinter Gittern, weil sie das Regime kritisiert haben. Karim ist der älteste, er bleibt auf seiner Metallpritsche liegen und lässt sich den Tee bringen. Er hat resigniert. Dann geht die schwere Eisentür auf, und ausgerechnet Karim wird aufgefordert, seine Sachen zu packen und mitzukommen. Er wird entlassen.

Fast stumm und ganz ohne Musik beginnt der Film "The Long Night". Wir sehen, wie Karim sich wäscht, wie er rasiert wird und ihm die Haare geschnitten werden. Dann steht er plötzlich auf der Straße, in Hemd und Anzug, eine Ledertasche in der Hand, schnuppert, schaut und staunt.

Der Film von Haitham Hakki, einem der renommiertesten Filmemacher Syriens, thematisiert nicht etwa die Haftbedingungen in den Gefängnissen oder Willkür bei Verhaftungen. Er beleuchtet vielmehr die Familie des entlassenen Häftlings, die sich inzwischen mit dem Regime arrangiert und ihre Kompromisse geschlossen hat. Die unerwartete Freilassung Karims wirft ihr Leben durcheinander, lässt Gewissensbisse und Schuldzuweisungen aufsteigen.

"Mir geht es um das menschliche Drama, der Film operiert nicht mit politischen Slogans", sagt Haitham Hakki im Interview mit Qantara.de in Damaskus. Er selbst hat das Drehbuch geschrieben. Als dieses von der Zensur genehmigt wurde, konnte der Film von Starregisseur Hatem Ali mit syrischen Schauspielern in Syrien gedreht werden.

Für die Vorführung in den syrischen Kinos braucht es allerdings eine weitere Genehmigung. "Die Zensoren lobten den Film, doch wegen des heiklen politischen Themas reichten sie ihn zur Prüfung an eine höhere Instanz weiter. Das war vor rund sechs Monaten. Seither habe ich nichts mehr gehört", sagt der Autor.

Haitham Hakki; Foto: Susanne Schanda
"Mir geht es um das menschliche Drama, der Film operiert nicht mit politischen Slogans", sagt Drehbuchautor Haitham Hakki.

​​ Allerdings ist die Wirkung der Zensur in der Ära des globalisierten Satellitenfernsehens begrenzt: "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch das syrische Publikum den Film sehen wird", sagt Haitham Hakki, der den Film für die saudische Produktionsfirma Orbit produziert hat. "Orbit wird den Film demnächst auf einem Kabelsender ausstrahlen. Danach werden wir ihn an weitere TV-Stationen verkaufen, und so wird er bald überall zu sehen sein, auch in Syrien. Die Zensoren können ja nicht den Kosmos schließen." Bereits ist "The Long Night" an zahlreichen Filmfestivals gezeigt und ausgezeichnet worden, so in Kairo, Delhi und Taormina.

Nah an den Tabuzonen

Haitham Hakki ist ein dezidiert politischer Filmemacher. Ob er dafür auch schon ins Gefängnis kam? Er winkt ab: "Nein, aber ich kenne zahlreiche Familien, die ähnliche Tragödien erlitten haben." Von Filmen, die eine direkte politische Botschaft verbreiten, hält er nichts. Sie wären in Syrien gar nicht möglich.

Von einigen arabischen Kritikern wurde ihm vorgeworfen, "The Long Night" beziehe nicht klar Stellung gegen die Regierung. Hakki, der sich als Sozialdemokrat definiert, sagt: "Das interessiert mich nicht. Meine sozialen Dramen sind immer politisch, auch wenn es nicht explizit um Politik geht. Wenn man etwas verändern will, zeigt man die Missstände in der Gesellschaft auf. Das ist an sich politisch."

Noch vor zehn Jahren war die Zensur in Syrien bedeutend strenger als heute. Mit der neuen Regierung von Bashar al-Assad nach dem Tod seines Vaters Hafez al-Assad im Jahr 2000 gab es vorerst eine Liberalisierung. Doch der so genannte Damaszener Frühling währte nicht lange. Künstler, Schriftsteller und Filmemacher haben gelernt, mit der Zensur umzugehen und Kritik zu üben, ohne das Kind direkt beim Namen zu nennen.

​​ Doch seien die roten Linien nicht klar definiert, erläutert Haitham Hakki. Manchmal hänge es von der Laune oder vom Charakter des gerade zuständigen Beamten ab. Generell gelten in der arabischen Welt die drei Tabus: Sex, Religion und Politik. "Aber man kann gar keinen Film machen, ohne diese Themen zumindest zu berühren. Ich bewege mich immer nah an diesen Tabuzonen und versuche laufend, die Akzeptanz zu erweitern", so Hakki.

Neue Impulse aus der syrischen Film- und TV-Industrie

Wie in Ägypten gibt es auch in Syrien die berühmt-berüchtigten Soap Operas, doch das Land hat auch eine stolze Tradition von TV-Serien, die soziale Probleme, die jüngste Geschichte Syriens oder arabische Themen wie den palästinensisch-israelischen Konflikt oder die Situation im Irak in ihre Dramen einbauen und dafür ein Publikum finden.

Der 61-jährige Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Haitham Hakki hat seit 1980 zahlreiche politisch und sozial brisante Kinofilme und Fernsehserien inszeniert und oft jahrelang auf die Genehmigung zur Vorführung gewartet.

So etwa bei der 23-teiligen Serie "Khan al-Harir" ("Seidenmarkt") des Schriftstellers Nihad Siris, bei der Hakki Regie führte. Zwei Jahre hatte die Zensurbehörde das Drehbuch zurückgehalten, bis 1996 endlich die Erlaubnis kam zu filmen. Die Geschichte um Liebe und Geschäft im Souq von Aleppo zeigt die negativen Auswirkungen der syrisch-ägyptischen Union von 1958-61. "Das gefiel der Regierung nicht", vermutet Hakki. Doch schließlich durfte die Serie sogar während der besten Sendezeit, im Fastenmonat Ramadan, ausgestrahlt werden, wurde ein Riesenerfolg und später noch mehrmals gezeigt."

Nach "Khan al-Harir" gab es immer mehr syrische TV-Serien und Filme, die über die Grenzen des Landes hinaus in der ganzen arabischen Welt Erfolg hatten. Die bis dahin den Markt dominierende ägyptische Filmindustrie hatte Konkurrenz erhalten. "Wir brachten die kinematografische Perspektive in die Serien, drehten mit nur einer Kamera an Schauplätzen außerhalb des Studios und wählten mutige Themen", erklärt Hakki die Strategie. Bis dahin waren TV-Serien ausschließlich im Studio produziert worden. "Das sah aus wie gefilmtes Theater und langweilte die Leute."

Finanzieller Kick durch liberale arabische Satellitensender

Neben den inspirierten und couragierten syrischen Filmemachern spielte das Aufkommen der Satellitensender in den Golfstaaten ab Mitte der 1990er Jahre eine große Rolle für den Boom der syrischen Serien. Denn jetzt kam viel Geld herein.

Regisseur Hatem Ali; Foto: Susanne Schanda
Der syrische Film wird in der arabischen Welt immer beliebter. Auch Hatem Ali, Regisseur des Films "A Long Night", ist über die syrischen Staatsgrenzen hinaus bekannt.

​​ MBC, Rotana und Orbit sind die bekanntesten arabischen Medienkonzerne, die intensiv in Spielfilme und Serien investieren. "Vor dieser Zeit, als es nur die lokalen Sender in den einzelnen Ländern gab, mussten wir eine Serie jeweils an rund 20 ausländische Sender verkaufen, um das investierte Geld wieder reinzuspielen. Heute kommt der Löwenanteil der Finanzierung von den Medienkonzernen im Golf, die im Besitz saudischer Prinzen oder Geschäftsleute sind."

Im Gegenzug sei die Einflussnahme oder gar Zensur von Seiten der Investoren denkbar gering. Anfangs habe es mit dem strengen Sittencode im Königreich Probleme gegeben, aber seit die meisten Sender ihren Sitz ins Ausland verlegt hätten, seien Sender, die von Saudis betrieben werden, die liberalsten der arabischen Welt. "Wer viel Geld investiert, will Profit sehen, ideologische Fragen sind dabei zweitrangig", sagt Hakki nüchtern.

So ist es wohl weniger politische Absicht, als ein Nebeneffekt des Wettbewerbs am grenzenlosen Satellitenhimmel, dass die Scheren der Zensoren die umstrittenen Objekte der Begierde nicht mehr erreichen. "The Long Night' ist das beste Beispiel dafür", bestätigt Haitham Hakki.

Susanne Schanda

© Qantara.de 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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