Leben nach der Zerstörung

Der Dokumentarfilm "Aisheen - Still Alive In Gaza" hat an der diesjährigen Berlinale den Preis der ökumenischen Jury gewonnen. In dem Film, der einen Monaten nach dem Ende des Gaza-Krieges entstand, geht es nicht um die Zerstörung, sondern um das Leben danach. Igal Avidan sprach mit dem Schweizer Filmemacher Nicolas Wadimoff.

Szene aus Aisheen © claudiatomassini & associates
"Sich auf die Seite des Lebens zu stellen, das kommt, und nicht auf die Seite des Todes", sagt Nicolas Wadimoff über die Intention seines Films "Aisheen"

​​Ihr Film entstand als Koproduktion zwischen der Schweiz und dem Kinderkanal von Al Jazeera aus Qatar. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Zusammenarbeit?

Nicolas Wadimoff: Der Produzent des Al Jazeera-Kinderkanals rief mich an und fragte, ob ich einen solchen Film drehen würde. Ich bin zweimal zuvor in Gaza gewesen und stimmte zu, wollte aber Mitproduzent sein, damit der Film in den Kinos gezeigt werden könnte.

War es schwer, eine Reisegenehmigung für den Gaza-Streifen zu erhalten?

Wadimoff: Ich bin ohne Probleme vom israelischen Erez-Checkpoint eingereist. Israel ist sehr liberal mit Medienvertretern. Offiziell darf man drei, vier Tage in Gaza bleiben. Aber weil ich auch sieben Berichte für den Schweizer TV-Sender TSR drehte, ließen mich die Israelis zwei Wochen bleiben.

Welche Veränderungen haben Sie im Gaza-Streifen festgestellt?

Wadimoff: Die Zerstörung war größer als ich anhand der Fernsehbilder erwartet hatte. Ich fand zerstörte Häuser, Felder und Fabriken, besonders direkt entlang der Grenze zu Israel. Das war auch mein erster Besuch nach der Machtergreifung der Hamas. Ich war drei Wochen nach Kriegsende dort und die Menschen waren noch im Schockzustand, wie aus einem Alptraum erwacht. Die Konflikte und den Riss zwischen der Hamas und der Fatah wurden daher an den Rand gedrängt.

Am 15. Februar nahmen Sicherheitskräfte der Hamas im Gazastreifen, wo die militante Organisation seit 2007 regiert, einen britischen Journalisten fest. Er habe die Sicherheit gefährdet, hieß es. Wurden Sie in Ihrer zweiwöchigen Arbeit in Gaza durch die Hamas eingeschränkt oder behindert?

Szene aus Aisheen © claudiatomassini & associates
Nicolas Wadimoff: "Wenn die Zuschauer sagen, das ist ja unglaublich, selbst nach diesem Inferno finden die Menschen dort noch die Kraft, aufrecht zu stehen, dann hat der Film funktioniert."

​​Wadimoff: Nein. Ich wurde niemals begleitet und konnte drehen, was und wo ich wollte. Ich arbeitete mit einem einheimischen "Fixer", der für mich Gesprächspartner vermittelte und Termine organisierte. Alle waren bereit, mit uns vor laufender Kamera zu reden.

Haben Ihre Interviewpartner das gesagt, was sie meinten, dass sie von ihnen erwarteten?

Wadimoff: Nehmen wir zum Beispiel die Szene mit dem jungen Rapmusiker. Er hatte keine Angst vor unserer Kamera, denn er sagt, was er denkt. Im Radio machte er das nicht: Die Menschen in Gaza zensieren sich selbst, weil es zu gefährlich ist, eine andere Meinung als die der Hamas zu vertreten. Die Hamas kontrolliert die Gesellschaft und schreibt ein sehr konservatives islamisches Verhalten vor.

Der Zoo in Gaza, wo man verhungerte Tiere mit ausgestopften ersetzt, spielt eine zentrale Rolle in Ihrem Film.

Wadimoff: Wir haben dort vier Mal gedreht. So kannten wir die Jugendlichen, die dort als Freiwillige helfen. Nur so war folgende Szene überhaupt möglich: Drei Jugendliche sitzen auf einer Schaukel und unterhalten sich ganz frei. Der eine erzählt, er hätte heute Pistazien gegessen, der andere war in der Moschee. Währenddessen fallen Bomben in der Grenzregion, wo die Tunnel ausgegraben wurden. Und dann beginnt sich der Junge zu beschweren.

Foto: © claudiatomassini & associates
Faycal Hassairi, Produzent vom Al Jazeera Kinderkanal (links) und Nicolas Wadimoff bei der Preisübergabe auf der Berlinale

​​Er beklagt die unmotivierten Lehrer und die schlechte Schule. So würde er seinen Traum niemals verwirklichen können, einmal Arzt zu werden. Dann wünscht er, die Juden würden verschwinden. Was hat das mit dem Schulniveau zu tun, fragt sein Freund. "Die Juden würden das Bildungssystem lahm legen", schimpft er und warnt: Ohne Bildung werden sie alle zu Selbstmordattentätern.

Sie verzichten bewusst auf Analysen oder eigene Kommentare und lassen Ihre Protagonisten manchmal stereotype Feindbilder von Israelis produzieren. Warum?

Wadimoff: Mein letzter Dokumentarfilm, L'Accord (2005) handelte vom Genfer Abkommen, in dem ich die Israelis und Palästinenser über dieses Friedensprojekt befrage. Danach wollte ich keinen Film mehr über Israelis und Palästinenser machen, denn ich hatte den Eindruck, dass alles darüber bereits gesagt wurde.

Nun ist die Zeit für Fiction-Filme. Wir brauchen keine Informationen, sondern Geschichten. Und das habe ich hier versucht, obwohl dies ein Dokumentarfilm ist: eben die Geschichte einiger Menschen zu erzählen.

Wird Ihr Film im Gaza-Streifen gezeigt?

Wadimoff: Das Kulturamt der Stadt Genf unterstützte den Film und schlug das vor. Ende November 2009 hatten wir drei Aufführungen im Saal der Gesellschaft Roter Halbmond. Der Saal war jedes Mal voll, alle Protagonisten kamen und genossen es, sich und ihre Freunde und Bekannte auf der Leinwand zu sehen.

Die Menschen lachten und sangen zusammen mit der Rap-Band. Es war eine tolle Stimmung. Ich hoffe, den Film auch in Israel und im Westjordanland zu zeigen.

Saßen die Männer und Frauen zusammen?

Wadimoff: Ja, absolut, in allen Aufführungen, vielleicht weil der Veranstaltungsort als weltlich gilt, oder weil die Hamas diese Trennung nicht forcieren will.

Glauben Sie, dass Ihr Film positiv auf die festgefahrene Situation zwischen Israel und der Hamas einwirken kann?

Wadimoff: Als ich 20 Jahre alt war, dachte ich, dass Filme etwas verändern können. Ich bin heute nicht mehr sicher. Wenn sie die Augen der Menschen in Israel und Palästina öffnen, könnten sie die Menschen hinter dem Konflikt sehen. Zum Beispiel, dass in Gaza nicht nur Hamas-Militante, sondern auch ganz normale Menschen leben. Das wollte ich in meinem Film zeigen.

Igal Avidan

© Qantara.de 2010

Qantara.de

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