Der Westen muss jetzt mit den Islamisten sprechen

Durch kritischen Dialog kann Einfluss genommen werden auf die dynamischsten politischen Bewegungen der arabischen Welt, die zu religiösen Demokraten wurden, schrieb der ägyptische Politologe Amr Hamzawy in der Neuen Zürcher Zeitung.

Islamist in Bagdad, Foto: AP
Islamist in Bagdad

​​Es ist notwendig zwischen gemäßigten und radikalen Strömungen bei den Islamisten zu differenzieren. Westliche Regierungen tun das ebenso wenig wie die arabischen Regimes. Der ägyptische Informationsminister Safawat al-Schirif antwortete auf die Frage, ob die Muslimbruderschaft in den neuen nationalen Dialog einbezogen würden: "Gibt es in Ägypten eine Bewegung namens die Muslimbruderschaft?"

Dann stellte er klar, dass in Ägypten keine religiösen Parteien zugelassen seien und religiöse Kräfte nicht am Dialog zwischen der Regierung und der Opposition teilnehmen dürfen. Religion, meinte al-Schirif in seinem Interview mit der Tageszeitung al-Hayat, sei kein Bestandteil der Politik, sondern eine private Angelegenheit.

Unterschiedlicher Umgang mit Islamisten

Diese Äußerungen sind typisch für viele arabische Regierungen und ihr Verhältnis zu den religiösen Kräften: die politische Relevanz des Massenphänomens Islamismus wird wider besseren Wissens abgestritten oder lediglich als Sicherheitsproblem bezeichnet. Ägypten, Saudi-Arabien und Tunesien verfahren so.

Marokko und Jordanien haben es dagegen geschafft mit islamistischen Bewegungen politisch umzugehen. Seit einigen Jahren wird dort versucht die Islamisten zu integrieren. In beiden Ländern beteiligen sie sich, obgleich in unterschiedlichen Formen, an der Regierung und an der parlamentarischen Arbeit. Die Wahl eines moderaten Islamisten zum Ministerpräsidenten in der säkularen Türkei ist bisheriger Höhepunkt dieser für den gesamt-islamischen Raum bedeutsamen Entwicklung.

"Der Islam ist Religion und Staat"

Aber auf der anderen Seite ist eine gefährliche Radikalisierung religiöser Gruppen vor allem im asiatischen Teil der islamischen Welt zu beobachten. Angefangen hatte diese jetzt zu beobachtende Tendenz mit der Iranischen Revolution von 1979 und der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat durch radikale Islamisten. Die Formel "Der Islam ist Religion und Staat" entwickelte sich länderübergreifend zum Wahlspruch religiöser Bewegungen und stellte die säkular orientierten politischen Systeme vor Herausforderungen.

Um gegen die Verwestlichung und den Werteverfall anzukämpfen, forderten Islamisten die islamische Rechtsordnung, Scharia, einzuführen. Die wirtschaftliche Entwicklung im Nahen Osten schritt damals zwar voran, aber die Mehrheit der arabisch-islamischen Bevölkerung sah sich vom Wohlstand ausgeschlossen. Der Friedensschluss Ägyptens mit Israel erzeugte vehemente Kritik und Widerstand. Den arabischen Regierungen wurde fortan nicht mehr zugetraut, Lösungen zu finden, die den Erwartungen der Bevölkerung gerecht werden konnten.

Bei der Suche nach eigenen Wegen, die zunehmend außerhalb staatlicher Strukturen stattfand, wurde in religiösen Kreisen der allgemein Protestruf "Der Islam ist die Lösung!" geprägt. In den achtziger Jahren verhärteten sich die Fronten zunehmend. Regierungen gingen gegen gewaltbereite islamistische Gruppierungen vor. Tausende aus dem Untergrund agierende Islamisten wurden inhaftiert, viele zu langjährigen Gefängnisstrafen oder zum Tode verurteilt. Die Gewaltspirale schien unvermeidbar.

Reformbereitschaft moderater Vertreter

Amr Hamzawy, Foto: privat
Amr Hamzawy

​​In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre entstanden neue Tendenzen: Aus der Erfahrung im Umgang mit der autoritären Staatsmacht waren innerhalb einiger islamistischer Gruppierungen allmählich "parlamentarische Demokratie" und "Menschenrechte" zu wichtigen politischen Zielvorstellungen geworden. Sie konnten sich in den Bürgergesellschaften engagieren. Dort, wo den religiösen Kräften die Politiksphäre vorenthalten blieb, konnten sich ihre moderaten Vertreter durch die Gründung islamischer Banken oder moderner Wohlfahrtseinrichtungen betätigen.

Einige radikale Bewegungen wie die ägyptische Jihad-Gruppe schworen der Gewalt ab. Die Reformbereitschaft der moderaten Islamisten sowie ihr soziales Engagement brachten ihnen in den vergangenen Jahren große gesellschaftliche Anerkennung.

Dialog mit Islamisten?

Der Westen weicht oft der Frage aus, ob es einen Dialog mit islamistischen Gruppen geben soll oder ob diese gar in den politischen Reformprozess im Nahen Osten einbezogen werden sollen. Europäische wie amerikanische Intellektuelle und Politiker müssen sich fragen, ob der Ausschluss dieser Bewegungen, die für den Demokratisierungsprozesse im Nahen Osten immens wichtig sind, nicht kontraproduktiv ist.

Oft sind diese Gruppen die einzig wirksame Opposition zu den autoritären arabischen Regimes. Und von den derzeit herrschenden Eliten ist meist nicht mehr als ein auf westliche Bedürfnisse zugeschnittenes Demokratisierungs-Theater oder eine Reduzierung demokratischer Inhalte auf technische Fragen wie gutes Regieren und Korruptionsbekämpfung zu erwarten.

Säkulare Akteure der Zivilgesellschaft wie zum Beispiel Menschenrechtsorganisationen und Frauenvereine sind isoliert und produzieren lediglich einen Diskurs der Experten. Geredet wird zwar über Demokratie, erreicht wird niemand.

Umdenken gefordert

Nur die moderaten islamistischen Gruppen, traditionell wie modern, sind gesellschaftlich verankert und politisch in der Lage, weite Teile arabischer Gesellschaften zu mobilisieren. Sie sind die wahren Agenten Ihre Meinung:
Soll der Westen mit moderaten Islamisten einen Dialog führen?
Schreiben Sie uns! demokratischer Transformationen, wenn sie nicht ausgeschlossen und ihre Mäßigungstendenzen gefördert werden.

Es ist an der Zeit, dass der Westen sich auf einen ernsthaften Dialog mit ihnen einlässt. Zwar werden die meisten Regierungen im Nahen Osten eine solche Neuorientierung kritisieren. Auch im Westen werden die säkularen Moralprediger sowie die Realpolitiker warnen. Sie werden es für ein irrationales Verhalten erklären oder die Destabilisierung der Region herbeireden. Dennoch ist der Dialog mit den moderaten Islamisten der einzige Weg, ein Momentum der Demokratie in der Region zu entfalten.

Amr Hamzawy

© Neue Zürcher Zeitung, 4. Januar 2004

Dr. Amr Hamzawy ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und lehrt zurzeit an der Universität Kairo.

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