Architektur entkolonialisieren

Nicht nur Raketen und Panzer, sondern auch Beton kann eine Waffe sein, sagt Eyal Weizman. In seinem Buch "Sperrzonen" untersucht der Israeli, wie sich Architektur und Politik im Nahost-Konflikt gegenseitig beeinflussen. Sarah Mersch stellt das Buch vor.

​​ Architektur ist nicht unpolitisch, sagt Eyal Weizman, sie ist nämlich kein Ergebnis von Politik, sondern ihr Mittel. Und damit im Fall des Nahost-Konflikts eben auch Mittel der Besatzung - ein Mittel, das die israelische Regierung nutzt, um ihre Interessen durchzusetzen.

Weizmans Buch "Sperrzonen" schlägt den Bogen vom Baustil Jerusalems über die Militärstrategie Ariel Sharons, den Aufbau von Checkpoints und die Architektur jüdischer Siedlungen bis hin zu den Tunnelanlagen in Gaza. Der Autor legt dabei auf beeindruckende Weise dar, welch entscheidende Rolle die Architektur in Israel und Palästina bei Unterdrückung, militärischen Entscheidungen und in der Sicherheitspolitik spielt.

Durch die Architektur wird eine Ideologie Realität, sagt Weizman. Und diese Realität ermöglicht dann Landnahme und Enteignungen. "Die Zerstörung von palästinensischen Flüchtlingslagern und Städten und der Siedlungsbau sind komplementäre Umsetzungen von Politik im Raum", so der Architekt, der seit fast zehn Jahren die Rolle der Architektur in der Region untersucht – erst für die israelische Nichtregierungsorganisation "B'tselem", jetzt als Leiter des "Centers for Research Architecture in London".

Wenn Baumaterial zur Waffe wird

Als im Frühjahr 2002 die israelische Armee das Flüchtlingslager Jenin im Norden des Westjordanlands angriff, waren die palästinensischen Kämpfer den Soldaten zunächst überlegen. Viele Israelis kamen bei den Kämpfen ums Leben, da sie sich in den engen, verwinkelten Gassen des Lagers nicht auskannten.

Daraufhin entschied sich die israelische Armee, mit Bulldozern sieben Schneisen durch die Stadt zu ziehen. Das war der erste Schritt hin zur Zerstörung des Lagers. Als die Palästinenser Jenin nach dem Abzug der Truppen wieder aufbauten, verbreiterte man die Straßen – sie wurden extra so breit gestaltet, dass ein israelischer Panzer hindurch fahren konnte.

Israelischer Panzer in Jenin; Foto: AP
Schneisen durch die Stadt - ein israelischer Panzer in den neu errichteten, breiten Straßen von Jenin

​​So wollte man sicherstellen, dass die Häuser bei Angriffen nicht zerstört werden – und erleichterte gleichzeitig der israelischen Armee die Arbeit. Es war ausgerechnet der muslimische Rote Halbmond, das Pendant des Roten Kreuzes, der mit Geldern vom Golf den Wiederaufbau leitete.

Der Wiederaufbau von Flüchtlingslagern sei oft paradox, meint Weizman, denn die Palästinenser wollen, dass das Lager einen temporären Charakter behält. "Es soll nicht zu einer Stadt werden, denn als Lager hält es das Rückkehrrecht aufrecht."

In Gaza, so glaubt er, werde es bald das gleiche Problem geben wie in Jenin. "Wie kann man für anständige Lebensbedingungen sorgen, ohne eine Stadt zu bauen, sondern nur ein Flüchtlingscamp, dessen Existenz zeitlich begrenzt ist?"

Ein ungewollter Teil der Besatzung

Jede Veränderung am Verlauf der Mauer zugunsten der Palästinenser und jede Verbesserung der Situation an den Checkpoints sei gleichzeitig ein Schritt hin zur Anerkennung der Herrschaft Israels, zur Normalisierung, argumentiert Weizman in seinem Buch.

Vor kurzem habe ein israelischer Politiker den Hilfsorganisationen Verrat an Israel vorgeworfen, erzählt Weizman. Doch dann habe Verteidigungsminister Ehud Barak widersprochen. Die Hilfsorganisationen seien in Wahrheit die wichtigsten Ordnungskräfte.

"Es kann passieren, dass Menschenrechtsorganisationen ungewollt zu einem Teil der Besatzung werden und ihre Taten israelische militärische Interessen stärken. Wir müssen uns dieser paradoxen Situation bewusst werden", warnt Weizman.

Eyal Weizman; Foto: &copy Verlag Edition Nautilus
Eyal Weizman ist Architekt und Direktor des "Center for Research Architecture"</wbr> an der Universität London. Er arbeitet mit verschiedenen Menschenrechtsgruppen in Israel-Palästina zusammen.

​​Genauso paradox wie der Wiederaufbau der Flüchtlingslager oft verlaufe, sieht Weizman die Gestaltung jüdischer Siedlungen. Meistens liegen sie strategisch günstig auf Bergkuppen, von weitem sichtbar und an den typischen roten Dächern zu erkennen.

Die Siedler sind verpflichtet, jede verdächtige Bewegung sofort dem Militär zu melden, sie sind Teil des Sicherheitsapparats. Doch schaut man in einen Prospekt der Siedlungen, dann geht es nicht um die Unterstützung des Militärs, sondern vor allem um eines: den unverstellten Blick auf das Heilige Land – die palästinensischen Gebiete. Die Siedler seien in einem Paradoxon gefangen, argumentiert Weizman.

Denn sie ziehen in die Siedlungen getrieben von einem Bedürfnis nach authentischem Landleben wie zu Zeiten der Bibel, das aber von den Palästinensern verkörpert wird, die sie ja gerade vertreiben wollen. "Und andererseits wollen sie die Palästinenser vertreiben. Gleichzeitig sehen die Palästinenser die Architektur der Siedlungen oft als Ikone der Moderne und des Luxus, und fangen an, ihre Bauweise zu imitieren."

Paradoxe Rolle der Architektur

"Sperrzonen" ist voll von solchen oft paradoxen Beispielen für die Rolle der Architektur. Es ist ein komplexes Buch über einen noch komplexeren Konflikt. Doch es gelingt "Sperrzonen", dem Leser dafür die Augen zu öffnen, wie die israelische Regierung die Architektur nutzt, um ihre Besatzungspolitik durchzusetzen.

Das Buch lenkt den Blick präzise auf einen Aspekt des Nahost-Konflikts, der wenig bekannt ist - obwohl er eigentlich an jeder Straßenecke zu sehen ist.

Rekonstruktion des Verlaufs der Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland; Foto: &amp;copy Verlag Edition Nautilus
"Ermüdende Versuche, immer eine noch kompliziertere Lösung zur Trennung der Staaten zu finden": Rekonstruktion des Verlaufs der Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland

​​Gerade forscht Eyal Weizman zusammen mit palästinensischen Kollegen, wie die Siedlungen in Zukunft genutzt werden könnten, würden die Siedler sie wieder verlassen. "Decolonizing Architecture", Architektur entkolonialisieren, heißt ihr Projekt.

Es geht ihnen darum, die Gebäude der Siedlungen umzugestalten und neue Nutzungsmöglichkeiten zu finden, die nicht der alten Herrschaftslogik entsprechen. Denn in der Vergangenheit wurden die verlassenen Gebäude der Kolonialherren oft einfach von der neuen Regierung übernommen. "Das Gefängnis blieb das Gefängnis, die Verwaltung die Verwaltung und die Post eben die Post."

Zu eng verwoben, um wieder zu teilen

Dadurch wurde auf räumlicher Ebene die gleiche Hierarchie beibehalten wie zu Zeiten vor der Unabhängigkeit. Damit das eines Tages in Palästina nicht passiert, gelte es, die Gebäude anders zu nutzen.

Doch so weit ist es noch lange nicht, und Weizman glaubt nicht, dass sich die komplexe Struktur, die sich in den Jahrzehnten des Konflikts entwickelt hat, einfach in zwei Teile aufteilen lässt. Dazu sei das Gebiet, das Israel und die palästinensischen Gebiete umfasst, einfach zu klein – und viel zu komplex.

"Diese ermüdenden Versuche, immer eine noch kompliziertere Lösung zur Trennung der Staaten zu finden, zeigen doch, dass es nicht möglich ist."

Das Paradebeispiel dafür sei der Vorschlag von Bill Clinton bei den Verhandlungen in Camp David, wie man den Tempelberg aufteilen könnte: Die Klagemauer wäre nach diesen Plänen israelisch geworden, darüber – getrennt durch 1,50 Meter UN-Zone - die palästinensische Al-Aqsa-Moschee, zugänglich nur über eine Brücke, die über israelisches Gebiet und durch israelischen Luftraum geführt hätte.

Dieser Plan wurde nie umgesetzt, und Eyal Weizman ist froh darüber. "Eine gemeinsame Zukunft ist Palästinas einzige Zukunft", meint er.

Sarah Mersch

© Deutsche Welle 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Das Buch "Sperrzonen - Israels Architektur der Besatzung" von Eyal Weizman ist im Hamburger Verlag Edition Nautilus erschienen und kostet € 24,90.

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