Lizenz zur Unterdrückung

In seinem neuesten Buch analysiert der britische Journalist Brian Whitaker das, was man auch als "arabische Krankheit" bezeichnet. Er glaubt, dass die repressiven Reflexe der arabischen Regime bereits so verinnerlicht sind, dass sie die gesamten Gesellschaften durchdringen. Von James Dorsey

Blick auf die Altstadt von Sanaa; Foto: dpa
Bei der Abwägung der Strategien, wie den fundamentalen Problemen des Jemen begegnet werden kann, wären westliche Politiker gut beraten, das Buch von Brian Whitaker zu lesen, meint James M. Dorsey.

​​Das fehlgeschlagene Bombenattentat auf eine US-amerikanische Passagiermaschine, die Versuche, das Auseinanderbrechen des Jemen und seine fortgesetzte Unterwanderung durch das Al-Qaida-Netzwerk zu unterbinden, haben einer alten Diskussion neue Nahrung gegeben: "Was läuft wirklich falsch im Nahen Osten"

Seit den Terrorangriffen vom 11. September 2001 versuchen westliche Politiker und Experten, die Wurzeln der islamistischen Militanz auszumachen und Strategien zu entwerfen, um der Gewalt Herr zu werden.

In der Debatte gibt es im Wesentlichen zwei Denkschulen; eine befürwortet vor allem militärische Lösungen und die Durchsetzung internationalen Rechts, während die andere diesen Ansätzen auch soziale und ökonomische Reforminitiativen an die Seite stellen will.

Noch mangelt es an politischen Strategien, die auf Basis dieser Ansätze konzipiert wären. Der Jemen und der Irak sind hierfür gute Beispiele.

Der jemenitischen Regierung war es zu Beginn des letzten Jahrzehnts mit US-amerikanischer Hilfe gelungen, Al-Qaida de facto zu neutralisieren, nur um heute zu sehen, dass das Netzwerk an Stärke derart gewonnen hat, dass es zu einer ganzen Serie von Anschlägen kam, zuletzt zu dem versuchten Bombenattentat auf das Passagierflugzeug der Northwest Airlines mit Kurs auf Detroit.

Die Bush-Regierung hatte gehofft, den Irak nach dem Sturz Saddam Husseins in so etwas wie einen "Modellstaat arabischer Demokratie" verwandeln zu können.

Heute wissen wir, dass wir lediglich mehr vom immer Gleichen haben: eine arabische Regierung mit autoritären Tendenzen, in der institutionalisierte Korruption und Vetternwirtschaft herrschen, eine durch Stammeskonflikte und Sektierertum geprägte, restriktive Gesellschaft, die auf einer Rentenökonomie fußt.

Ein Abbild der repressiven Systeme

So bleibt die Frage nach wie vor unbeantwortet: "Was läuft wirklich falsch im Nahen Osten"?

Bei der Analyse der gegenwärtigen Lage im Jemen und bei der Abwägung verschiedener Strategien, wie mit den fundamentalen Problemen des Landes, aber auch wie denen des Nahen Ostens insgesamt zu begegnen ist, wären westliche Politiker gut beraten, das neueste Buch des Journalisten Brian Whitaker zur Hand zu nehmen, dessen Titel "What's Really Wrong with the Middle East" (Was läuft wirklich falsch im Nahen Osten") gut durch den Untertitel "Und wie der Westen einen Wandel herbeiführen kann" hätte ergänzt werden können.

Demonstration von Hamas-Aktivisten im Gazastreifen; Foto: AP
Das Beispiel der Hamas zeigt, dass der Widerstand gegen Neuerungen nicht allein ein Problem der politischen Eliten ist, sondern aus der Gesellschaft selbst kommen kann.

​​Whitaker glaubt, dass der entscheidende Unterschied zwischen dem arabischen Autoritarismus und Diktaturen andernorts darin besteht, dass es in der arabischen Welt nicht nur um diktatorische Regime geht, die einer nach Freiheit strebenden Gesellschaft aufgezwungen werden.

Vielmehr haben wir es häufig mit politischen Systemen zu tun, denen es zwar an Akzeptanz im Volk und an Legitimität mangelt, deren repressive Reflexe jedoch so verinnerlicht wurden, dass sie praktisch alle sozialen Schichten der Gesellschaft durchdringen.

Deshalb kommt der Widerstand gegen einen möglichen Wandel nicht nur von Seiten der Regime, sondern oft genug aus der Gesellschaft selbst. Zudem wird der Widerstand aus dem Volk häufig gerade von islamistischen Kräften aufgegriffen und instrumentalisiert.

Als Beispiel sei Kuwait genannt, wo der erbliche Herrscher, also der Emir, erweiterte Rechte für Frauen befürwortete, damit jedoch auf den Widerstand konservativer Abgeordneter des gewählten Parlaments stieß. Dies führt Whitaker zu dem Schluss, dass "Regierungen das Produkt der von ihnen geführten Gesellschaften" seien, und dass es "in arabischen Ländern sehr oft die Gesellschaft selbst ist, die dem Fortschritt im Wege steht."

Konsens auf Grundlage von Ritualen und Zwang

Mit anderen Worten geht es bei der "arabischen Krankheit" um ein Phänomen, das nicht nur Dschihadisten und Selbstmordattentäter hervorbringt, sondern das vor allem durch Herrschereliten am Leben gehalten wird, denen es gelingt, sich von Zeit zu Zeit durch kleinste Reformen neue Legitimität zu verschaffen.

Zugleich ist die Krankheit aber auch den Gesellschaften selbst inhärent, da sie noch immer ein Bildungssystem favorisiert, das aufs sture Auswendiglernen setzt sowie von einem Wirtschaftssystem, in dem der allmächtige Mann genauso Oberhaupt ist, wie er es auch unumschränkt in jeder Kernfamilie darstellt.

Hosni Mubarak; Foto: AP
Die Allmacht des Pharao: Seit mittlerweile über 27 Jahren regiert Ägyptens Präsident Hosni Mubarak autokratisch sein Land

​​Um dieses Phänomen zu beschreiben, bedient sich Whitaker der Theorie des "Neo-Patriarchismus" des aus Palästina stammenden US-Historikers Hisham Sharabi.

In einem kontrovers diskutierten, in vielen arabischen Ländern bis heute verbotenen Buchs aus den 1980er Jahren, konstatiert Sharabi, dass die arabische Gesellschaft um die "Dominanz des Vaters (Patriarchen)" aufgebaut sei:

Dieser bildet "das Zentrum der nationalen wie der natürlichen Familie. So existieren zwischen dem Herrscher und den Beherrschten, zwischen Vater und Sohn einzig vertikale Beziehungen: in beiden Verhältnissen ist der väterliche Wille absolut, ein Konsens, der im Falle der Gesellschaft wie in dem der Familie durch alte Rituale genauso wie durch Zwang geschaffen wurde", schreibt Sharabi.

Auf diese Weise gaben die arabischen Regime die Unterdrückung an die Gesellschaft weiter, die ihrerseits nicht mehr nur unterdrückt wurde, sondern selbst repressive Züge annahm. Das Regime wurde so tatsächlich zum Vater aller Väter und gelangte an die Spitze der Herrschaftspyramide.

Die Folgen des ägyptischen Neo-Patriarchismus

Oder, wie es der ägyptische Journalist Khaled Diab gegenüber Whitaker auf den Punkt brachte: Das Problem Ägyptens ist nicht nur ein alternder Präsident, der nach fast 30 Jahren an der Macht kaum etwas vorzuweisen hat, sondern vielmehr die Tatsache, dass "Ägypten eine Million Mubaraks hat".

Schulklasse in Syrien; Foto: DW
Überholtes Bildungssystem: Noch immer wird in vielen autoritär regierten arabischen Staaten ein Curriculum favorisiert, das nicht mehr zeitgemäß ist und auf das sture Auswendiglernen setzt.

​​Der brachte arabische Gesellschaften hervor, deren Geist gelähmt ist und denen es an allen Mitteln zur Innovation mangelt. Gesellschaften, in denen sie selbst ebenso wie die Regierungen jede Innovation, jeden kreativen Ansatz genauso bestrafen wie das Infragestellen, das Problemlösen und den Nonkonformismus.

Aus dieser Perspektive betrachtet gewinnt die im Volk verbreitete Unterstützung der islamistischen Opposition gegen liberale Reformen. Gleiches gilt für den Kampf gegen den Terrorismus und die Anstöße von außen, um die arabischen Gesellschaften zur Anerkennung gleicher Rechte für alle Bürger zu bewegen. "Wandel – wenn er denn Bedeutung haben soll – muss in den Köpfen der Menschen beginnen", schreibt Whitaker.

Um dies zu erreichen - und um gangbare Alternativen zu entwickeln -, die der konservativen islamistischen Geistlichkeit in Ländern wie dem Jemen entgegengesetzt werden können, braucht es einen Krieg um die Köpfe und Herzen der Menschen. Und dieser muss die wirklichen Probleme ansprechen, die im Nahen Osten vorherrschen. Zweifelsohne ist das ein langwieriger und mühsamer Weg.

Eine lebendige Debatte ohne Tabus

Nicht an Reformen interessierte Politiker oder Oppositionsparteien, sondern Frauen, Blogger und Homosexuelle – also all diejenigen, die in der arabischen Welt am meisten diskriminiert werden, könnten beim "Kampf um die Köpfe und Herzen" der Menschen zu den wichtigsten Alliierten werden. Auch Whitakers Buch profitierte entscheidend von ihrem Input.

Gleiche Rechte für Frauen, der am meisten benachteiligten sozialen Gruppe, könnten zu dem Thema werden, mit dessen Hilfe sich der repressive Mechanismus der arabischen Gesellschaften am ehesten aus den Angeln heben lässt. Wie die Gleichberechtigung für Frauen bedroht auch der Kampf für die Rechte der Homosexuellen die festgefügten Geschlechterrollen, die die männliche Dominanz garantieren.

​​Blogger wiederum haben bereits gezeigt, wie sich der Konformismus in der arabischen Welt wirkungsvoll angreifen lässt, in einer Gesellschaft also, in der jeder seinen Platz zu kennen glaubt und davor zurückschreckt, aus der Reihe zu tanzen. Das Internet gab ihnen die Möglichkeit, dieses System außer Kraft zu setzen und sich in einer lebhaften Debatte ohne gedankliche Tabus zu engagieren, wenn dies auch noch häufig unter Einsatz ihres Lebens geschieht.

Davon, ob westliche Regierungen ihre Politik der Unterstützung autoritärer arabischer Regimes aufgeben und ihren Schwerpunkt nicht mehr einzig auf eine militärische Kooperation legen (bei gleichzeitiger Forderung nach Demokratisierung, die letztlich doch nur minimale Scheinreformen bedeuten), wird es wohl abhängen, ob verhindert werden kann, dass der Jemen zur neuen Basis von Al-Qaida wird.

"Man kann Diktatoren stürzen, man kann Länder zwingen, Wahlen abzuhalten und man kann sogar einigermaßen faire Wahlprozeduren durchsetzen, doch das allein bringt noch keine Freiheit; dafür nötig ist ein sehr viel umfassenderes Konzept des sozialen Wandels", schreibt Whitaker.

Mit seinem Buch gibt Whitaker all jenen neue Argumente, die auf der Suche nach Antworten auf die Herausforderung des Terrorismus sind und nach dessen Ursachen und Auswirkungen forschen.

James M. Dorsey

© Qantara.de 2010

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Brian Whitacker: "What's Really Wrong with the Middle East", Saqi Books, London 2009

Qantara.de

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