Zarte Pflänzchen in garstigem Umfeld

Vor rund 20 Jahren wurden in Nordafrika die ersten unabhängigen NGO gegründet. In vielen Bereichen ist es ihnen seither gelungen, sich als Stimmen einer vielfältigen Zivilgesellschaft zu etablieren, doch ihr Spielraum ist beschränkt. Von Beat Stauffer

Vor rund 20 Jahren wurden in Nordafrika die ersten unabhängigen NGO gegründet. In vielen Bereichen ist es ihnen seither gelungen, sich als Stimmen einer vielfältigen Zivilgesellschaft zu etablieren, doch ihr Spielraum ist – vor allem in Tunesien - immer noch sehr beschränkt. Von Beat Stauffer

Menschenrechtsaktivisten mit Augenbinden, Foto: dpa
"Wir lassen uns nicht unterkriegen!" - die täglich erfahrene Repression lasse den Willen, dem Regime Ben Alis etwas entgegenzusetzen, nur noch stärker werden, sagen tunesische Menschenrechtsaktivisten

​​Es war in einem Konferenzzentrum in Genf im Frühling dieses Jahres. Einem tunesischen Delegierten, Hochschulprofessor und Aktivist in einer unabhängigen Nichtregierungsorganisation, fiel ein junger Mann auf, der ständig fotografierte und Tonaufnahmen machte.

Als er den Mann, den man aufgrund seiner Kleidung für einen Globalisierungskritiker gehalten hätte, direkt auf sein Tun ansprach, zischte ihm dieser zu: "Lass mich in Ruhe! Ich mache bloß meine Arbeit!" Es war, davon ist der Professor überzeugt, eine "oreille du pouvoir", ein staatlich bezahlter Agent, der sich unter das Publikum gemischt hatte.

Systematische Unterwanderung

Wer sich über den Handlungsspielraum von Nichtregierungsorganisationen in Tunesien kundig machen will, bekommt häufig derartige Geschichten zu hören. Einige davon sind weniger harmlos als diejenige mit dem "unechten" Globalisierungskritiker.

Der gravierendste Vorwurf: Der tunesische Staat habe Tausende von "künstlichen" Vereinen ins Leben gerufen, die den einzigen Zweck hätten, die authentischen Organisationen zu bekämpfen und ihnen nicht zuletzt an internationalen Konferenzen die Legitimität abzusprechen.

"Von den über 9400 Nichtregierungsorganisationen, die offiziell in Tunesien existieren, sind gerade einmal sieben wirklich unabhängig", erklärt etwa Essia Bel Hassen, Sprecherin der "Association Tunisienne des Femmes Démocrates". Alle anderen Organisationen seien von den Behörden geschaffen worden und verfügten über keine Basis.

Die unabhängigen Verbände und Organisationen hätten dagegen mit größten Schwierigkeiten zu kämpfen; vielen gelinge es nicht einmal, ihre Jahresversammlungen abzuhalten. Sie sehen sich zudem alle mit einer Infiltrationsstrategie der immer noch fast allmächtigen ehemaligen Einheitspartei RCD konfrontiert.

Staatlich bezahlte Agenten, so ist zu erfahren, versuchten in großer Zahl den unabhängigen Organisationen beizutreten und in den Leitungsgremien eine Mehrheit zu gewinnen. Anschließend machten sie sich daran, den Kurs der betreffenden Organisation im Sinn des Auftraggebers zu korrigieren.

Auch die tunesische Menschenrechtsorganisation LTDH, die älteste in ganz Nordafrika, wurde wiederholt Opfer eines solchen "Übernahmeversuchs". Diese Strategie ist allerdings häufig nicht von Erfolg gekrönt, weil sich die unabhängigen Organisationen der Gefahr bewusst sind und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen.

Doch der tunesische Staat verfügt über weitere Mittel, um die unabhängigen Nichtregierungsorganisationen an ihrer Arbeit zu hindern. So blockiert er regelmäßig Gelder, welche tunesische NGO von befreundeten internationalen Organisationen erhalten.

Gleichzeitig verunmöglicht er es den Organisationen, sich durch Gala-Anlässe oder Geldsammlungen selbständig zu finanzieren. Schließlich versuchen die Behörden, die missliebigen Organisationen mittels endloser Prozesse lahm zu legen.

Der tunesische Staat, schreibt Omar Mestiri, Vorstandsmitglied des "Conseil National pour les Libertés en Tunisie", unternehme alles, um "die Ressourcen der unabhängigen Organisationen auszutrocknen, sie permanent mit Prozessen einzudecken und ihre Arbeit totzuschweigen".

Angesichts dieser düsteren Analyse, die im Wesentlichen von allen Befragten geteilt wird, erstaunt es, dass die paar wenigen tatsächlich unabhängigen Organisationen immer noch aktiv sind.

"Wir lassen uns nicht unterkriegen!" scheint die Devise zu sein; die täglich erfahrene Repression lasse den Willen, diesem totalitären System etwas entgegenzusetzen, nur noch stärker werden, sagt LTDH-Präsident Trifi.

Andere teilen diesen Optimismus nicht. "Die tunesische Zivilgesellschaft liegt im Koma", sagt ein Kulturschaffender, der, wie viele andere, seinen Namen nicht genannt haben will.

Ansätze einer Zivilgesellschaft

Etwas besser stehen die Dinge in Algerien. Zwar sind Organisationen und Verbände mit vielen Einschränkungen konfrontiert und müssen eine Reihe von Kompromissen eingehen, um arbeiten zu können. Sie werden aber, so der Eindruck, nicht auf dieselbe krude Weise drangsaliert wie im Nachbarland Tunesien.

Doch auch in Algerien ist die Lage alles andere als rosig. Mit wenigen Ausnahmen befinde sich die Zivilgesellschaft zurzeit noch in einem "embryonalen Stadium", erklärt die algerische Journalistin Hafida Ameyar.

Genau genommen gebe es in Algerien drei Kategorien von Organisationen. Erstens die so genannten "Massenorganisationen", die bereits zur Zeit der Einheitspartei existiert hatten - etwa die "Union der algerischen Frauen". Diese Organisationen seien nicht wirklich unabhängig, sondern vielmehr Instrumente im Dienst der Machthaber.

Zur zweiten Kategorie rechnet Ameyar Krebsligen und Verbände mit vergleichbaren Zielsetzungen. Diese funktionierten recht gut, erhielten häufig staatliche Subventionen und dürften auch sonst auf staatliches Wohlwollen zählen.

Nicht so die dritte Kategorie von Organisationen, die bewusst auf ihre Unabhängigkeit vom staatlichen Machtapparat pochten. Sie seien nicht offiziell anerkannt, sondern bloß geduldet, hätten mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen und erhielten keinerlei Subventionen.

Einige dieser unabhängigen Organisationen, so die Beobachtung von Hafida Ameyar, seien aber in den vergangenen Jahren von regierungsnahen Kreisen angegangen und mittels Geldgeschenken, Auslandreisen oder Stellenangeboten "korrumpiert" worden.

Sie hätten dadurch ihre Unabhängigkeit verloren, seien zu "Pseudo-NGO" geworden und müssten genau genommen zur Klientel der gegenwärtigen Machthaber gerechnet werden.

Mehr Spielraum in Marokko

Alle Beobachter stimmen darin überein, dass unabhängige Organisationen und Verbände zurzeit in Marokko den größten Spielraum genießen.

"Marokko ist das Land in der Region, in dem die Autokratie der Zivilgesellschaft den meisten Raum lässt", schreiben etwa die tunesische Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine und ihr Ehemann, Omar Mestiri, in ihrem kürzlich erschienenen Buch "Despoten vor Europas Haustür" (Verlag Antje Kunstmann, München 2005).

Dieser Freiraum werde allerdings durch "rote Linien", die nicht überschritten werden dürfen, unmissverständlich eingegrenzt. Dennoch: In Marokko haben eine Reihe von NGO - allen voran Frauen- und Berber-Organisationen - ein beachtliches Gewicht erhalten.

Aus dem kulturellen Leben des Landes sind sie nicht mehr wegzudenken, und ihre Stimme hat zunehmend Gewicht; das Ende 2003 verabschiedete neue Familien- und Frauenrecht hätte sich ohne die beharrliche Arbeit von zahlreichen Frauenorganisationen kaum durchsetzen lassen.

Dahinter stehe die Einsicht des Königs, analysiert eine Beobachterin, dass Marokko seine gewaltigen Probleme und seinen Rückstand in vielen Bereichen nur mit Hilfe der Zivilgesellschaft und ihren Organisationen wirkungsvoll angehen könne.

Die Zivilgesellschaft erhalte dadurch einen Teil der Verantwortung aufgebürdet, werde aber gleichzeitig auch gestärkt. - Der Begriff des "Citoyen", des Staatsbürgers, der seine Rechte einfordert, sich aber auch aktiv um die Lösung von gesellschaftlichen Problemen bemüht, ist für den gesamten Maghreb auf jeden Fall ein neues Konzept, das nur langsam demjenigen des Klienten beziehungsweise Untertanen weicht.

Der Zivilgesellschaft im Maghreb steht noch ein weiter Weg bevor. Dass sich die Zivilgesellschaft ausgerechnet im monarchistischen Marokko am besten entfalten konnte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Für viele tunesische NGO-Aktivisten ist dies eine bittere Erkenntnis. "Früher waren wir im Maghreb die Vorreiter in diesem Bereich", sagt LTDH-Präsident Trifi. "Wir haben in den neunziger Jahren den Marokkanern geholfen, eigene Menschenrechtsorganisationen zu gründen."

Heute sei Tunesien zurückgefallen, und es werde Jahre brauchen, um diesen Rückstand wieder aufzuholen. Vom Weltinformationsgipfel, der Mitte November in Tunis stattfindet, erwarten die Vertreter der tunesischen Zivilgesellschaft nur wenig: Nachdem alle Versuche gescheitert sind, den Regimes vorgängig eine Reihe von Konzessionen abzutrotzen, werden sich die NGO damit begnügen müssen, zumindest für eine kurze Zeit über eine Plattform zu verfügen, die ihnen im Alltag verwehrt ist.

Beat Stauffer

© NEUE ZÜRCHER ZEITUNG 2005

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