Kleinster gemeinsamer Nenner

Aus Mangel an Alternativen unterstützen selbst religiöse Reformer Rafsandschani als Präsidentschaftskandidaten – einen Pragmatiker, der an Despotie und Wirtschaftsliberalismus festhält und das erstarrte politische System erhalten soll. Von Faraj Sarkohi

Aus Mangel an Alternativen unterstützen selbst religiöse Reformer Hashemi Rafsandschani als Präsidentschaftskandidaten – einen Pragmatiker, der an Despotie und Wirtschaftsliberalismus festhält und das erstarrte politische System erhalten soll. Von Faraj Sarkohi

Ali Akbar Haschemi Rafsandschani, Foto: dpa
Der neue Hoffnungsträger bei religiösen Konservativen und Reformern aus Mangel an Alternativen: Irans früherer Präsident Rafsandschani

​​Hashemi Rafsanjani, der zweitmächtigste Mann in der Islamischen Republik Iran, gab am 10. Mai im letzten Augenblick seine Kandidatur bei den kommenden Präsidentschaftswahlen bekannt. Seine Erklärung hierzu eröffnet keine neuen Perspektiven und weckt keine Hoffnungen, sondern zeigt die Furcht eines Politikers, der neun Jahre das Amt des Parlamentssprechers inne hatte und bereits auf zwei Amtsperioden als Präsident zurückblickt.

Kaum überzeugende Wahlprogramme

Das Fehlen eines anziehenden Wahlprogramms hat er mit seinen Konkurrenten gemeinsam. Zum ersten Mal in den mehr als 25 Jahren der Islamischen Republik kann keiner der Präsidentschaftskandidaten, gleich welchen Flügels, ein Programm vorweisen, das die Zuversicht und die Hoffnungen eines größeren Teils der Bevölkerung auf sich vereint.

Ein weiteres Novum ist, dass sich bisher weder Fundamentalisten noch Reformer, die beiden Hauptflügel der Regierung, auf einen jeweiligen Kandidaten einigen konnten.

Gescheiterte politische Konzepte – ein Rückblick

Trotz der Armut der politischen Philosophie in Iran, gelang es den bedeutenden politischen Strömungen der letzten 100 Jahre, die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung zu gewinnen, indem sie für große Ideale eintraten.

"Parlamentarische Regierung" zur Zeit der Konstitutionellen Revolution, "Wiederherstellung der alten Größe Irans" unter Reza Schah, "Befreiung der Erdölindustrie aus den Händen der Engländer" unter Mossadegh, "Landreform, Frauenwahlrecht und Gewinnbeteiligung von Arbeitern" unter Mohammed Reza Schah und "Islamische Regierung" unter Khomeini waren die Konzepte und Versprechen die einen Großteil der Menschen anzogen.

Auch in den letzten 26 Jahren gingen alle Präsidentschaftskandidaten mit verheißungsvollen Konzepten auf Stimmenfang. Bani Sadr versprach die Etablierung einer islamischen Wirtschaft, Raja'i die Herrschaft der Armen und Entrechteten, Khamenei, der jetzige religiöse Führer, verhieß den Sieg im Krieg gegen den Irak, Rafsanjani vertrat in seinem Programm den Wiederaufbau und die Privatisierung der Wirtschaft nach Kriegsende und Khatami eine islamische Demokratie.

Auf diese Weise gewannen sie die Stimmen von weiten Teilen der Bevölkerung. Nach und nach scheiterten alle diese Konzepte und Ideen. Khatamis Programm fand die umfassende Unterstützung der Bevölkerung und der Europäischen Union.

Doch nach achtjähriger Amtszeit Khatamis sind weder Demokratie - die Hauptforderung der Bevölkerung -, noch die Einstellung des Atomprogramms und die Beendigung der Unterstützung palästinensischer Terrororganisationen - die Hauptanliegen der Europäischen Union - in die Tat umgesetzt.

Das Scheitern der religiösen Reformer ließ das Projekt der Umsetzung von Demokratie im Rahmen der islamischen Verfassung und unter Beibehaltung der herrschenden politischen Struktur in den Archiven der Geschichte verschwinden. Einige der einstmals feurigsten Anhänger dieser Idee streben nun eine grundlegende Änderung der Verfassung oder zumindest einiger ihrer zentralen Artikel an.

Alle Macht den Hütern der Verfassung

Laut der islamischen Verfassung besitzt der Wächterrat, dessen fundamentalistische Mitglieder vom religiösen Führer bestimmt werden, das Recht, Kandidaten bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abzulehnen und gegen vom Parlament vorgelegte Gesetzesentwürfe ein Veto einzulegen.

Im Bereich der Außenpolitik und der inneren Sicherheit sowie bei so wichtigen Fragen wie der Atompolitik besitzt der religiöse Führer das letzte Wort. Er ernennt die Befehlshaber von Militär und Polizei, den Justizchef, den Direktor der Rundfunk- und Fernsehanstalt, die Vorsitzenden der mächtigen und vermögenden Stiftungen und die Freitagsimame, einflussreiche Geistliche in den jeweiligen Städten.

Auch besitzt er das Recht, den Präsidenten abzusetzen. Neben dem religiösen Führer können die Großayatollahs, die religiösen Hochschulen und die Freitagsimame den Präsidenten und sein Kabinett lahm legen.

Die Ohnmacht der religiösen Reformer

Khatami und das sechste Parlament, in dem die religiösen Reformer die Mehrheit stellten, stießen bereits bei den ersten elementaren Versuchen, Reformen durchzuführen und neue Gesetze zu erlassen, an die durch die Verfassung festgelegten eisernen Grenzen. In einer seiner jüngsten Reden erklärte Khatami selbst, der Präsident sei ein Dienstleister, der die Programme und Ideen Anderer in die Tat umsetze.

In der Praxis bewegte die Angst vor einem Erstarken liberaler und nichtreligiöser demokratischer Strömungen die religiösen Reformer zu einer Annäherung an die Fundamentalisten.

Letztendlich führte dies dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung, die mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert ist, den Glauben an Reformen im Rahmen der bestehenden Verfassung verlor und sich von den religiösen Reformern enttäuscht abwandte.

Dies gilt insbesondere für die Jugendlichen, die sich größere Freiheit nach westlichem Vorbild wünschen, und die Frauen, die vielschichtigen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Da die Mehrheit der Bevölkerung bei den letzten Parlaments- und Stadtratswahlen den Wahlurnen fernblieb, errangen die Fundamentalisten die Mehrheit.

Wachsender Popularitätsverlust

Die religiösen Reformer sind nicht nur mit der Enttäuschung der Bevölkerung konfrontiert, die allein bereits zu ihrer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen führen könnte, sondern haben noch mit zwei weiteren Problemen zu kämpfen: dem Fehlen attraktiver Konzepte und eines geeigneten Sympathieträgers.

Das weitreichendste Programm der Parteien der religiösen Reformer besteht in der Fortsetzung der Reformen Khatamis, die niemanden mehr anziehen. Nachdem Hossein Mosawi, der ehemalige Premierminister unter Khomeini zur Zeit des Krieges, die Kandidatur ablehnte, konnten die religiösen Reformer keinen gemeinsamen Kandidaten finden.

Radikalere Reformer schlugen Mustafa Moin, den Wissenschaftsminister Khatamis, gemäßigtere Reformer Mehdi Karubi, den Präsident des vorherigen Parlaments, als Kandidaten vor. Beiden fehlt es in der Bevölkerung an Beliebtheit, und ihre Aussagen beschränken sich auf eine blassere Version des gescheiterten Programms und der unerfüllten Versprechen Khatamis.

Aus Mangel an Alternativen: Rafsanjani

Einige führende religiöse Reformer unterstützen angesichts der zu erwartenden Niederlage ihres Flügels bei den Wahlen Rafsanjani. Diese Gruppierung hofft, dass Rafsanjani seinen persönlichen Einfluss und seine Macht nutzt, um die uneingeschränkte Vorherrschaft der Fundamentalisten in der Exekutive zu verhindern und zumindest auf dem Gebiet der Wirtschaft und der internationalen Beziehungen die Radikalität der Fundamentalisten abzuschwächen.

Auch die Anstrengungen der Fundamentalisten, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen, scheiterten. Weder Ali Akbar Welayati, der einstige Außenminister während der Präsidentschaft Rafsanjanis, noch Ali Larijani, der Direktor der Rundfunk- und Fernsehanstalt und Vertreter des religiösen Führers im nationalen Sicherheitsrat, noch Mahmood Ahmadi Neshad, fundamentalistischer Bürgermeister von Teheran, dem die Ermordung von oppositionellen Intellektuellen vorgeworfen wird, oder Baqer Qalibaf und Mohsen Rezai, Befehlshaber der Revolutionsgarden, konnten sich als gemeinsamer Kandidat des Flügels der Konservativen etablieren.

Das Programm der radikalen und gemäßigteren Fundamentalisten besteht aus den altbekannten Slogans der Islamischen Republik - Widerstand gegen die westliche Dominanz, Einsatz für die Armen und Entrechteten, Kampf gegen Korruption und andere immer wiederkehrende Phrasen, die die Aversion der Bevölkerung erregen.

Iran im politischen Spannungsfeld

Rafsanjani nannte in seiner ersten Erklärung zu seiner Kandidatur die größer werdende innere Spaltung, das Erstarken extremistischer Kräfte, die Abwendung der Bevölkerung vom islamischen System, die kritische Lage der Region auf internationaler Ebene und den allgemeinen Zweifel an der Tauglichkeit des islamischen Systems als Gründe für seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen.

Die Wirklichkeit bestätigt seine Sorgen. Immer wieder kommt es in Iran zu städtischen Unruhen und Streiks von Arbeitern, Angestellten und Studenten. Einige Militärs träumen von einer Machtübernahme, und die Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich einen Sturz der Islamischen Republik.

Außenpolitisch schaffen der Widerstand Irans gegen den Nahostfriedensplan, das Problem des Atomprogramms und die Stationierung amerikanischer Truppen an den Landesgrenzen im Süden, Osten und Westen Irans eine heikle Situation.

In seinen letzten Interviews versprach Rafsanjani, sich um den Aufbau von Beziehungen zu Amerika, dem Wunsch der Mehrheit der iranischen Bevölkerung entsprechend, zu bemühen, die Privatisierung fortzusetzen und die gesellschaftlichen Einschränkungen zu lockern.

Rafsanjani, der an Despotie auf politischer Ebene und Liberalismus in der Wirtschaft glaubt, ist in der Bevölkerung für seinen Pragmatismus, konspirative Absprachen, den Mord an Dissidenten und Korruption berüchtigt. Er genießt die Unterstützung der Gruppe der islamischen Technokraten und Bürokraten sowie eines Teils der Fundamentalisten und religiösen Reformer.

Nichtsdestotrotz steht er nun angesichts seiner Vergangenheit, der Wiederholung unerfüllt gebliebener Versprechen und der Abwendung der Mehrheit der Bevölkerung vom islamischen System vor einer schweren Herausforderung.

Faraj Sarkohi

© Qantara.de 2005

Aus dem Persischen von Sabine Kalinock

Faraj Sarkohi begründete 1985 das Kulturmagazin "Adineh" (Freitag), deren Chefredakteur er für elf Jahre war. Als einer der Wortführer der Schriftsteller-Initiative ("Text der 134") gegen Zensur wurde er 1996 verhaftet. Ein Jahr darauf wurde er in einem geheimen Verfahren zum Tode verurteilt. Durch internationale Proteste konnte das Urteil jedoch revidiert werden. Zwei Jahre darauf reiste er nach Frankfurt a. Main aus, wo er heute lebt. Sarkuhi erhielt 1998 den Kurt-Tucholsky-Preis für politisch verfolgte Schriftsteller und ist Ehrenmitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

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