Sündenfall oder Erkenntnishilfe?

In Teheran fand vor kurzem eine internationale Kant-Konferenz statt, die einen erfolgreichen Dialog zwischen den philosophischen Kulturen in Ost und West stiften konnte. Claus Langbehn informiert

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Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft"), Stich von J. L. Raab nach einem Gemälde von Döbler aus dem Jahr 1781.

​​Deutsche Philosophen - zumal, wenn sie Kant, Nietzsche und Heidegger heißen - sind in Iran sehr beliebt. Das Interesse an Nietzsche kann mit dessen "Zarathustra" erklärt werden, der es heutigen Iranern erlaubt, den altpersischen Religionsstifter Zoroaster im Spiegel eines europäischen Denkers neu zu entdecken.

Heideggers Modernekritik dagegen ist nach der Islamischen Revolution im Jahre 1979 unter kulturideologischen Vorzeichen politisiert und zu einem bevorzugten Vehikel der Kritik an der westlichen Welt instrumentalisiert worden.

Iranisch aufgeklärt

Um zu verstehen, warum die Kantische Philosophie für iranische Intellektuelle so hoch im Kurs steht, genügt der Hinweis, dass sie einen Zugang zur westlichen Philosophie par excellence bietet. Das jedenfalls behauptet Hamidreza Ayatollahy, Professor für Philosophie an der Allameh Tabatabaii Universität in Teheran.

Diesen Zugang suche man allerdings nicht allein aus purem Interesse am westlichen Denken; um sich selbst in seinem Denken zu verstehen, so Ayatollahy, müsse man das andere, mithin die abendländische Philosophie, verstehen.

Konsequenz dieser verbreiteten Einstellung ist ein beeindruckendes Wissen über westliche Philosophie auf Seiten iranischer Philosophen, dem hiesige Fachvertreter in ihrem Wissen über persische Philosophie in der Regel nicht viel entgegenzusetzen haben.

Jürgen Habermas hat in dieser Hinsicht einmal zu Recht von einer "Asymmetrie der Verständigungsverhältnisse" gesprochen und den westlichen Besucher, der er vor gut zwei Jahren selbst einmal war, dabei als "Barbaren" entlarvt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Juni 2002).

Erfolgreicher Dialog

Eine internationale Kant-Konferenz, die jetzt in Teheran stattgefunden hat, wirkt vor diesem Hintergrund zunächst wie eine Verschlimmerung dieser Asymmetrie.

Am Ende der vom Institut für Philosophie der Allameh Tabatabaii Universität organisierten Veranstaltung mit dem Titel "200 years after Kant" bleibt indes festzuhalten: Ein Erfolg, wie diese Konferenz ihn zweifellos für sich in Anspruch nehmen kann, ist sie nicht nur deshalb, weil sie einen Dialog zwischen den unterschiedlichen philosophischen Kulturen in Ost und West stiften konnte.

Am Ende vermochte sie gar, zwischen Kulturen an sich, vor allem aber zwischen den in ihnen lebenden Menschen zu vermitteln, ohne sich auf Philosophisches zu beschränken.

Fünfundzwanzig Gäste aus Nordamerika, Europa, Afrika und Asien und ebenso viele iranische Philosophen waren geladen, sich zu den unterschiedlichen Aspekten im Denken Kants auszulassen. Referiert wurde vornehmlich über Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" und über seine Grundlegung einer philosophischen Theologie und praktischen Philosophie, aber auch über die Erkenntnistheorie und sein Verhältnis zum mathematischen Intuitionismus Brouwers.

Konferenz mit Zwischentönen

Begonnen hat die Konferenz allerdings mit einem Paukenschlag. Der amerikanische Philosoph Louis Pojman, der sich in seinem Vortrag zum Kantischen Kosmopolitismus äußerte, sah sich in der Diskussion mit einem erregten iranischen Zuhörer konfrontiert.

Dieser meinte, am Beispiel Kants das Aufeinanderprallen zwischen westlicher, mithin säkularisierter Philosophie und östlichem, religiös fundiertem Denken referieren zu müssen.

Zuhörende Gäste aus dem westlichen Ausland waren Zeugen, wie die abendländische Moderne zu einem Sündenfall philosophischen Denkens moduliert wurde; irritiert nahm man einen theologischen Realismus zur Kenntnis, gegen den Pojman sich allerdings so elegant zur Wehr setzte, dass das iranische Fernsehen den Amerikaner um ein Interview für das Abendprogramm bat.

Aus Sicht eines europäischen Besuchers gab es noch viele andere Dinge, die ungewohnt und fremd schienen. Im Sitzungssaal ging es zu wie auf einem Basar; während der Vorträge marschierten unzählige Besucher in den Saal hinein, um ihn eventuell kurz darauf wieder zu verlassen.

Viele Studentinnen insbesondere der Anglistik nahmen die Gelegenheit wahr, den englischsprachigen Vorträgen zu folgen, und auch der mutige Wortbeitrag einer Studentin während eines Vortrags wurde von den Veranstaltern hingenommen (und von den Diskutanten betont aufgenommen). In einem Land, in dem es immer noch nicht erwünscht ist, Frauen die Hand zu schütteln, ist das nicht selbstverständlich.

Radikaler Paradigmenwechsel gefordert

Die einzige Frau unter den ausländischen Referenten sprach auch als einzige über das Problem der Universalisierbarkeit von Menschenrechten. Die in Kanada lehrende Philosophin Susan E. Babbitt führte dabei geschickt vor, wie dieses Thema inmitten von Menschen diskutiert werden kann, die nach wie vor unter den fragwürdigen Bedingungen eines theokratischen Systems leben.

Sie forderte einen radikalen Paradigmenwechsel in der Universalisierungsdebatte, indem sie den Vergleich mit den Naturwissenschaften nicht scheute:

So wie die moderne Physik das Newtonsche Weltbild nicht hätte überwinden können, wenn Einstein nicht vollkommen mit den theoretischen Grundlagen der Newtonschen Physik gebrochen hätte, so müsse die praktische Philosophie (des Westens) ihre liebgewordenen theoretischen Konzepte aufgeben, um das Problem der Menschenrechte sowie die Frage nach deren Universalisierbarkeit sinnvoll zu behandeln.

Für den antiliberalen Geist mag sich das zunächst nach Bestätigung seiner Ablehnung des politischen Liberalismus und westlichen Werteuniversalismus angehört haben - schnell wurde jedoch erkennbar, dass Frau Babbitt nur der Meinung ist, die Universalität der Menschenrechte nicht mit den etablierten Konzepten der politischen Philosophie und Ethik begründen zu können, dieses aber eben grundsätzlich für möglich hält.

Stärker ist die Verteidigung einer Philosophie, die an der universalen Geltung von Menschenrechten festhält, auf einer solchen Veranstaltung nicht zu führen.

Nicht weniger geschickt hat ein Vertreter der iranischen Philosophie versucht, einen Dialog zwischen Okzident und Orient zu stiften. Der Bruder des religiösen Führers Irans, Ayatollah Sayyid M. Chamenei, forderte während eines gemeinsamen Abendessens dazu auf, am Tisch nicht über Politik zu sprechen.

Bedeutung der Philosophie im Dialog der Kulturen

Chamenei, der selbst ein Buch über die Geschichte der Philosophie seit der griechischen Antike geschrieben hat ("Development of Wisdom in Iran and in the World"), versuchte dann auch, den Iran als das "Land der Weisheit" zu vermitteln; nicht als Teilnehmer der Konferenz, sondern als (ranghoher) Vertreter der muslimischen Geistlichkeit seines Landes rief er seine zuhörenden "Kollegen" dazu auf, die praktische Bedeutung der Philosophie anzuerkennen und sich als Philosophen in den Dialog der Kulturen einzubringen.

Wer Chamenei zuhörte, musste bald der Meinung sein, dass der Frieden zwischen Iran und seinen internationalen Kritikern vom Erfolg oder Misserfolg der Philosophie abhänge.

Im Vorwort zu seinem Buch liest man: Anders als Politiker, die der Welt Leid zugefügt hätten, seien Philosophen immer bemüßigt, die Menschen glücklich zu machen; Philosophie betrachte die Menschen als Mitglieder einer Familie und erkenne die Grenzen zwischen ihnen nicht an. Die Teheraner Veranstaltung bestätigt eindrucksvoll, dass sie dazu auch heute noch in der Lage ist.

Claus Langbehn

© Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2004