Mit Theaterarbeit Traumata überwinden

Seit sieben Jahren leiten drei Hamburger Regisseurinnen das Theaterensemble HAJUSOM. Die Schauspieler sind minderjährige Flüchtlinge, die von der Abschiebung bedrohte sind. Sigrid Dethloff hat die Theatergruppe besucht.

Darstellerin der Theatergruppe Hajusom
Eine Darstellerin der Theatergruppe Hajusom

​​Sie sind vor Hunger, Not und Gewalt aus ihrer Heimat geflohen. Immer mehr Kinder und Jugendliche irren um den Erdball, um irgendwo Sicherheit und ein Auskommen zu finden. Zwischen 5000 bis 10.000 elternlose, minderjährige Flüchtlinge leben zurzeit in Deutschland, wobei die meisten kaum Chancen auf eine Anerkennung ihrer Asylverfahren haben.

Um die immens tiefen, seelischen Verletzungen dieser Kinder und Jugendlichen aufzufangen haben seit 1999 drei Hamburger Theaterregisseurrinnen das Theater-Ensemble HAJUSOM aufgebaut. Die jugendlichen Schauspieler und Schauspielerinnen werden durch Sozialarbeiter, Betreuer und Therapeuten vermittelt.

Kampf für die Akzeptanz als Flüchtling

Die Regisseurin Dorothea Reinicke beschreibt ihre Arbeit mit den stets von der Abschiebung bedrohten Jugendlichen auch als Teil eines Kampfes, den ihre Vormunde und Anwälte für die Akzeptanz als Flüchtlinge führen.

Der Name des Theater-Ensembles HAJUSOM selbst steht für diesen Kampf. Er spielt auf die Geschichte der Theater-Gruppe an. Es sind die Namen der drei Jugendlichen, mit denen im Dezember 1998 der erste Antrag auf Projektförderung bei der Hamburger Kultur-Behörde gestellt wurde:

"HA" steht für Hatice, eine Kurdin, die kurz nach der Antragstellung abgeschoben wurde, also nie mitgespielt hat. "JUS" für Jusuf, einen Darsteller aus Afghanistan, der auf Grund seines aussichtslosen hiesigen Asylverfahrens in ein anderes westeuropäisches Land geflohen ist. Und "OM" für Omid, einen inzwischen untergetauchten jugendlichen Flüchtling aus Iran.

Genau um solche oder andere Kämpfe mit dem deutschen Flüchtlingsalltag bestehen zu können, dafür steht HAJUSOM. Die Arbeit hilft den Jugendlichen, ihre Traumata zu verarbeiten, Selbstbewusstsein zu entwickeln und Talente zu entfalten.

Theater als Hilfe zur Verarbeitung von Erlebtem

Für das Regisseurinnen-Trio ist es wichtig, dass die Jugendlichen die Stücke weitgehend selbst entwickeln. Autobiographisches Material soll einfließen, Erlebtes, Erfahrenes, ohne dass Zwang von außen ausgeübt wird.

Viele kennen nicht nur Flucht, sondern sogar Folter und Misshandlungen. Der größte Reibungspunkt für die jugendlichen Flüchtlinge besteht in der Suche nach der eigenen Identität. Durch das Theaterprojekt werden sie ermuntert, ihre kulturellen Wurzeln nicht zu vergessen, sondern sie im Rahmen der Proben und später auf der Bühne zu zeigen.

Innerhalb der Gruppe können die Jugendlichen über das sprechen, was sie als Angehörige so vieler unterschiedlicher Kulturen und Nationen bewegt: über den Islam, das Christentum oder auch über die Beschneidung von Frauen. Für viele ist die Gruppe so etwas wie eine Ersatzfamilie geworden.

Sie kommen vor allem aus Afghanistan, den Kriegsregionen Afrikas oder auch dem Iran. Conny Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg, einer Gruppe von engagierten Bürgern und Bürgerinnen, Sozialarbeitern und Juristen, hat immer wieder Kinder und Jugendliche in die Obhut der drei Regisseurinnen vermittelt.

Er sieht, dass die Situation minderjähriger, unbegleiteter Flüchtlinge in Deutschland immer dramatischer wird: "Ganz extrem sind jetzt die neuesten Zahlen. Zwischen Oktober und Dezember 2005 sind in Hamburg nur noch drei minderjährige unbegleitete Flüchtlinge aufgenommen worden", meint Gunßer. Und das, obwohl zur gleichen Zeit mehr als sieben Mal so viele offiziell registriert sind.

Für eine Welt ohne Grenzen

Holliday Inn, so der Name des aktuellen Stückes von HAJUSOM, beschreibt sieben Tage und sieben Nächte in einem Hotel, dessen verheißungsvoller Name die Sehnsucht nach Urlaub, Ferien und großen Reisen zu erfüllen verspricht. Scheinbar zufällig treffen in diesem Hotel eine Reihe von Persönlichkeiten aus Vergangenheit und Gegenwart zusammen.

Sie alle haben für eine Utopie gekämpft oder kämpfen noch dafür. Für eine Welt ohne Grenzen, in der alle Menschen gleich sind. Eine Welt, in der Religion, Hautfarbe, kulturelle oder soziale Zugehörigkeit keine Rolle spielen

Ein Stück, wie ein Gipfeltreffen politischer Streitereien und Denkweisen. Doch die Hotel-Welt gerät mit einem heraufziehenden Unwetter aus den Fugen. Alles wird überspült, alle verlieren in dem Gewirr ihre Pässe. Ohne Halt und - vor allem - ohne Pass stehen sie plötzlich da.

Alle Schauspieler von HAJUSOM kennen diese Situation. Sie selbst haben diese Stadien der Unsicherheit und der Angst durchlebt. Mit diesem Erfahrungsschatz haben sie den Stoff entwickelt.

Keine Reise wegen fehlender Papiere

Auch die Kultur- und Projektmanagerin Sarah Bergh aus München, die seit Jahren Aufführungen und Tourneen für HAJUSOM organisiert, hat diesen Alltag schon miterlebt. Zum Beispiel vor einigen Monaten, als die Truppe zu einem Theaterfestival in Johannesburg in Südafrika eingeladen wurde.

Trotz erheblicher finanzieller Probleme war am Ende genügend Geld vorhanden, um die Reise anzutreten. Zwei der Darsteller erhielten jedoch keine Reisepapiere. Die Ausreise wäre wohl kein Problem gewesen, die Einreise wäre ihnen jedoch aufgrund ihres Aufenthaltsstatus' verweigert worden. Da die Gruppe beschlossen hatte, dass entweder alle fahren oder keiner, blieben sie schließlich in Deutschland.

Sigrid Dethloff

© DEUTSCHE WELLE 2006

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