"Die Medien können das Land verändern"

Journalisten in Afghanistan sind großem Druck ausgesetzt; Selbstzensur gehört zum Alltag und noch immer gibt es keine einzige unabhängige nationale Tageszeitung. Im Interview mit Martin Gerner spricht Samander Rahimullah, Vorsitzender der Unabhängigen Afghanischen Journalisten-Vereinigung darüber, was zu tun ist.

Samandar Rahimulla; Foto: Jochen Wermann
Samandar Rahimullah: "Die Medien gehören zum Fundament einer funktionierenden Demokratie"

​​Wie würden Sie den gegenwärtigen Zustand der afghanischen Medien und des Journalismus beschreiben?

Samander Rahimullah: Wir haben zurzeit 98 Radiostationen, 16 Fernsehsender und hunderte von Presseunternehmen in Kabul und draußen in der Provinz. Nach einem sehr erfolgreichen Start in den ersten Jahren (nach dem Fall der Taliban, d. Red.) gerieten die Medien seit 2005 zunehmend unter Druck, als bei den Wahlen eine große Zahl von Konservativen und ehemaligen Mudschaheddin in das Parlament gewählt wurden und schon bald begannen, Druck auf Journalisten auszuüben.

Auch die ulama, also die Gemeinschaft von Gelehrten des Islam und der Scharia, gewinnen seit einiger Zeit an Einfluss. Und während sich Präsident Karzai anfänglich noch zu Wort meldete und für die Pressefreiheit eintrat, hat er sich in diesem Punkt inzwischen zurückgezogen. Kürzlich ging er sogar auf den Protest von Konservativen ein und unterstützte das Verbot von Sendungen von insgesamt drei Fernsehsendern. Es ist nur noch ein Jahr bis zur nächsten Wahl und Karzai möchte es sich mit einigen einflussreichen Leuten nicht verderben.

Welcher Art von Problemen sehen sich die afghanischen Journalisten heute gegenüber?

Sayed Parwez Kambaksh; Foto: Ratbil Shamel/DW

​​Rahimullah: Im letzten Jahr wurden vier Journalisten getötet, 38 wurden verletzt, bedroht oder eingeschüchtert, sowohl in gezielten Attacken als auch bei anderen Übergriffen; 20 wurden festgenommen, angeklagt oder von Sicherheitskräften der Taliban verschleppt. So kann es nicht verwundern, dass die Selbstzensur in der Presse ein weit verbreitetes Phänomen ist.

Die Welt wurde auf den Fall von Sayed Parwez Kambaksh aufmerksam, der zum Tode verurteilt wurde. Glauben Sie, dass er bald wieder freikommt?

Rahimullah: Ich gehe davon aus. Von der internationalen Gemeinschaft wurde sehr intensiv darauf hingearbeitet und es wurde auch Druck ausgeübt. Der Fall wurde an eine höhere Instanz, einem Berufungsgericht, verwiesen. Dennoch werden wir es auch in der Zukunft mit solchen Fällen – also dem Kopieren von kontroversen Inhalten aus dem Internet und ihrem Vertrieb – zu tun haben. Und aufgrund einer immer wachsameren Zensur werden auch mehr Journalisten wegen solcher Dinge eingesperrt werden – es sei denn, die Zustände ändern sich.

Inwieweit beeinflusst der Krieg, vor allem im Süden und Osten des Landes, die Arbeit der Journalisten?

Rahimullah: Die wichtigste Veränderung, die wir beobachten können ist, dass die Taliban, die bis noch vor einem Jahr die Bedeutung der Medien verkannten, diese für ihre Zwecke zu nutzen wissen.

In welcher Weise?

Rahimullah: Sie haben einfach ihre Einstellung dazu geändert. Die Taliban senden heute wöchentlich SMS an Journalisten. Darin wird die Presse über die Anzahl von ISAF-Soldaten und afghanischen Polizisten "informiert", die dieTaliban angeblich getötet haben. Diese Informationen werden den Journalisten in einem ganz freundlichen Tonfall übermittelt.

Die afghanische Regierung ihrerseits hat keine Kapazitäten, um den Medien Informationen zukommen zu lassen. Regierungsbüros haben oft gar keine Presseabteilung, keinen Sprecher. Nur das Präsidialamt verfügt über eine Presseabteilung, doch dieses Büro hält gegenüber dem Präsidenten gezielt Informationen zurück. So haben wir aktuelle Berichte darüber, dass Journalisten und die internationale Gemeinschaft mehr als 50 Briefe an den Präsidenten geschrieben haben, in denen über Verletzungen von Grundrechten geklagt wurde. Der Präsident aber hat von diesen Briefen nie Kenntnis bekommen.

Während die Taliban den Wert der Medien immer mehr verstehen, geht es der Regierung vor allem darum, schlechte Nachrichten zu unterdrücken. Dies ist auch der Grund, warum sie selbst immer mehr unter Druck gerät und ihr Image in der Bevölkerung immer schlechter wird; die Menschen verlieren ihr Vertrauen in den Präsidenten und seine Minister.

Sie werden für einige Tage in Europa sein, einflussreiche Medienexperten Politiker treffen. Worauf werden Sie besonders hinweisen?

Rahimullah: Ich werde sehr eindringlich dafür werben, dass die internationale Gemeinschaft die Afghanen nicht vergisst. Die Medien sind ein ganz entscheidender Faktor für die Stärkung der Demokratie in unserem Land. Noch immer brauchen afghanische Journalisten mehr Kapazitäten und finanzielle Unterstützung. Noch immer gibt es keine größere unabhängige landesweite Tageszeitung.

Traditionell gekleideter Afghane auf einem Balkon, umringt von Satellitenschüsseln; Foto: AP
Auf Sendung: Das Satellitenfernsehen hat mehr verändert als nur die Fassaden der Häser in Afghanistan

​​Die Radiostationen in den kleineren Orten sind noch immer nicht in der Lage, ein eigenes Programm zu machen und sind dringend auf Kapital angewiesen. Außerdem muss endlich wirklich investigativer Journalismus betrieben werden können, um die überall anzutreffende Korruption aufzudecken; illegale Landnahmen, Menschenrechtsverletzungen, die Intransparenz der Regierungsarbeit und die Wahlprozeduren sind weitere Themen, die unbedingt angegangen werden müssen.

Der Fall Kambaksh legte die fehlende Unabhängigkeit der Justiz bloß, doch hängt doch die Pressefreiheit auch ganz entscheidend von einem funktionierenden Rechtssystem ab. Ist ein Fortschritt in dieser Richtung zu erwarten?

Rahimullah: Das Rechtssystem ist der korrupteste Teil des gesamten Staatswesens in Afghanistan. Auch wenn die Geberländer hier schon mit verschiedenen Projekten versucht haben, zu helfen, ist kein wirklicher Fortschritt erkennbar. Meine Erfahrung aus zehn Jahren journalistischer Praxis lautet: die einzige Chance auf Veränderung besteht im Aufdecken von Missständen.

Wenn wir 100 Journalisten schulen, deren einzige Aufgabe darin besteht, über das afghanische Rechtswesen zu berichten für, sagen wir, sechs Monate und sie gut recherchierte Hintergrundreportagen von allen Gerichten des Landes berichten lassen, also von den nationalen, den Provinzgerichten und den Bezirksgerichten, dann würden sich die Dinge langsam ändern. Es würde bedeuten, dass endlich über schlecht ausgebildete und korrupte Richter geschrieben würde, über ihr schlechtes Gehalt und über lokale Kommandeure, die die Richter unter Druck setzen.

Wenn die afghanischen Medien über all diese Zustände berichten würden, könnte unser Volk der internationalen Gemeinschaft auch viel besser bei der Planung der Hilfsgelder helfen und sie könnten viel effizienter eingesetzt werden. Ich glaube, dass letztlich alles von den Medien abhängt. Die Medien können alles verändern.

Interview von Martin Gerner

© Qantara.de 2008

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