Tauziehen zwischen Justiz und Regierung

Die umstrittene Entscheidung, zehn Mitglieder der türkischen Hizbullah aus der Haft zu entlassen, hat den schwelenden Konflikt zwischen der Regierung und der Justiz neu angeheizt, wie Ayşe Karabat aus Ankara berichtet.

Schatten hinter türkischer Nationalfahne; Foto: AP
In der Türkei herrscht öffentliche Entrüstung über die Freilassung von Mitgliedern der radikal-sunnitischen Hizbullah-Organisation, die in den späten 1980er Jahren im Verlauf der Kämpfe zwischen kurdischen Separatisten und der türkischen Armee entstand.

​​ Das türkische Oberste Berufungsgericht genehmigte im vergangenen Januar die Freilassung von zehn Mitgliedern der türkischen Hizbullah-Organisation. Diese Entscheidung wurde von der Regierung umgehend unter Beschuss genommen. Der Regierung wiederum wird vorgeworfen, die Situation zu ihren Gunsten auszunutzen.

Im Gegensatz zur besser bekannten Hizbullah des Libanon, deren Premierministerkandidat aus den vergangenen Wahlen dort als Sieger hervorging, ist die türkische Hizbullah eine sunnitische Organisation. Verbindungen zwischen beiden werden regelmäßig von der libanesischen Gruppe abgestritten.

Die türkische Hizbullah wird weithin für eine Organisation gehalten, die vom sogenannten "tiefen Staat" gedeckt und als Waffe gegen die kurdische PKK eingesetzt wird. In den 1990er Jahren kam sie aber auch gegen andere säkulare Kurden und Türken zum Einsatz.

Vor zwei Jahren wurden einige Hizbullah-Mitglieder zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, weil sie an der Ermordung von 188 Menschen beteiligt waren, doch dagegen legten sie Berufung ein.

In der Türkei bleiben solche Inhaftierte so lange "unter Arrest", bis das Gericht sich mit ihrem Fall befasst. Diese Frist wurde durch eine kürzlich eingebrachte Gesetzesnovelle begrenzt. Da dieser Zeitraum im Falle der Hizbullah-Mitglieder abgelaufen war, wurden sie Anfang Januar 2011 freigelassen.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) beschuldigte die Justiz, den Berufungsprozess nicht rechtzeitig abgeschlossen zu haben. Die Regierung steht ohnehin im Zwist mit der Justiz. Sie wirft ihr vor, den Staat zu untergraben. Die Justiz wiederum behauptet, die Regierung versuche, ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben, anstatt die zur Vereinfachung des Justizsystems notwendigen Gesetzesnovellen zu beschließen.

Der Vorsitzende der AKP-Fraktion, Bekir Bozdağ, erklärte, das Oberste Berufungsgericht hätte denjenigen Fällen Vorrang geben sollen, in denen die Begrenzung der Haftzeit bald ausläuft, anstatt mit dem Abschluss anderer und kontroverserer Fälle "vorzupreschen". "Es gibt nichts, was das Hohe Gericht derzeit davon abhält, sich mit dem Fall Hizbullah zu befassen", fügte er hinzu. "Sie können sich immer noch innerhalb einer Stunde versammeln und ihr Urteil sprechen."

Um die Dauer des Prozesses zu verkürzen, hat die Regierung inzwischen einen Vorschlag eingebracht, der die Einrichtung neuer Kammern im Obersten Berufungsgericht vorsieht. Gegenwärtig ist das Gericht mit fast zwei Millionen Fällen im Rückstand, hat sich aber gegen die Einrichtung neuer Kammern ausgesprochen.

Schatten vor kurdischer Fahne; Foto: AP
Nach Darstellung Karabats wird die türkische Hizbullah weithin für eine Organisation gehalten, die vom sogenannten "tiefen Staat" gedeckt und als Waffe gegen die kurdische PKK eingesetzt wird.

​​Der Präsidialrat des Obersten Berufungsgerichts erklärte, dass die regionalen Gerichtshöfe, die in manchen Regionen bereits eröffnet wurden, ausreichen sollten, um die Arbeitslast zu mildern. Diese Stellungsnahme haben sie Ende Januar abgegeben – unmittelbar nachdem das Parlament einen Gesetzesentwurf für die Einrichtung neuer Kammern eingebracht hatte.

Mehrere türkische Anwaltskammern unterstützten das Oberste Berufungsgericht und befanden, die Regierung versuche, die Justiz zu kontrollieren.

Diese Meldung markierte den Wendepunkt für das Gericht, von dem wiederholt gefordert worden war, zusätzliche Kammern einzurichten. Eine Maßnahme, die der einzige schnelle und gangbare Weg zu sein scheint, um das türkische Berufungssystem zu erneuern. Immerhin werden jährlich 20.000 Berufungsfälle eingestellt, nur weil seit ihrer Einreichung zu viel Zeit vergangen ist.

Es kursieren jedoch Gerüchte, dass die Regierung beabsichtigt, einen ihr nahe stehenden Richter in diese neuen Kammern zu berufen, so dass die Regierungsanhänger bei der Wahl zum Vorsitzenden des Obersten Berufungsgerichts eine Mehrheit hätten. Der Vorsitzende ist befugt, Verfahren gegen politische Parteien einzuleiten und sie gegebenenfalls zu verbieten.

Als die Gesetzesvorlage im Rechtsausschuss des Parlaments diskutiert wurde, traten die Abgeordneten der Republikanischen Volkspartei (CHP) am 31. Januar zurück mit der Behauptung, die AKP habe – im Gegensatz zu ihrer üblich Praxis – den Ausschuss zu zwingen versucht, auch am Freitag, dem muslimischen Feiertag, zu arbeiten.

Spurlos verschwunden

Der Fall der Hizbullah-Mitglieder sorgte schon allein deswegen für heftige öffentliche Debatten, da sie derzeit als verschwunden gelten: Die Männer hatten die Auflage, sich täglich bei der Polizei zu melden, um zu zeigen, dass sie sich nicht abgesetzt haben. Doch das haben sie nie getan. Das Gericht verkündete daraufhin seine Entscheidung, sie wieder zu inhaftieren, doch bislang konnten die Sicherheitskräfte ihren Aufenthaltsort nicht ausfindig machen.

Das führte zu einem offenen Streit zwischen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan und dem CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu. Kılıçdaroğlu beschuldigte die AKP nicht nur, die notwendigen Maßnahmen zur Verhütung der Flucht nicht ergriffen zu haben. Er mutmaßte überdies, sie habe mit den Hizbullah-Mitglieder kooperiert, um bei den anstehenden Wahlen kurdische Wählerstimmen zu gewinnen.

Kemal Kılıçdaroğlu; Foto: AP
Beschuldigt die regierende AKP, den Ausbruch der türkischen Hizbullah nicht verhindert zu haben: CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu

​​Der stellvertretende Vorsitzende der CHP, Sezgin Tanrıkulu, der früher Vorsitzender der Anwaltskammer in Diyarbakır war, erklärte, in der Wahrnehmung vieler Kurden kooperiere die AKP mit der Hizbullah.

Die religiösen Gefühle der türkischen Kurden sind sehr stark und einige Segmente der kurdischen Gesellschaft distanzieren sich – trotz ihrer nationalistischen Forderungen – von der vorherrschenden pro-kurdischen Bewegung aufgrund ihrer säkularen Ausrichtung. Auch die terroristische PKK verfolgt einen marxistischen und damit säkularen Ansatz.

PKK-Chef Abdullah Öcalan beteiligte sich an der Diskussion mit der Behauptung, der türkische Staat wolle die Hizbullah wiederbeleben, um die Kurden in ihrem nationalistischen Kampf zu spalten.

"Sie haben der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ein Ende gesetzt, indem sie die Hamas schufen. Wir alle wissen, dass die Hamas die Mitglieder der PLO aus Fenstern im vierten oder fünften Stock geworfen hat. Sie werden versuchen, die kurdische Bewegung durch einen künstlich geschaffenen Islamismus zu zerstören. Es ist nicht korrekt, sie als kurdische Hamas zu bezeichnen. Ich bezeichne sie als ein 'Netzwerk', das vorgibt, islamistisch zu sein, doch tatsächlich haben sie mit dem Islam nichts zu tun", ließ Öcalan verlautbaren. Auf Imrali verbüßt Öcalan seine lebenslange Haftstrafe.

Inzwischen haben die Sicherheitskräfte eine Operation gegen die Hizbullah und eine ihrer mutmaßlichen legalen Ableger gestartet. Bislang konnten sie zwar den Aufenthaltsort der wichtigsten der zuvor freigelassenen Hizbullah-Mitglieder nicht ausmachen, aber es ist ihnen gelungen, wenigstens die anderen wieder zu inhaftieren. Doch inmitten all dieser Vorgänge bleibt eine Frage unbeantwortet: Wo sind die Köpfe der Hizbullah-Mitglieder jetzt?

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2011

Übersetzung aus dem Englisch von Sabine Kleefisch

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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