Im Teufelskreis der Justiz

Nach Auffassung des Europäischen Menschenrechtsgerichts trägt die Türkei eine Mitschuld an der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink. Doch der Prozess gegen den Täter und die Hintermänner verläuft nur schleppend. Hülya Sancak hat sich mit der Anwältin Hrant Dinks, Arzu Becerik, unterhalten.

Nach Auffassung des Europäischen Menschenrechtsgerichts trägt die Türkei eine Mitschuld an der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink. Doch der Prozess gegen den Täter und die Hintermänner des Attentas verläuft nur schleppend. Hülya Sancak hat sich mit der Anwältin Hrant Dinks, Arzu Becerik, unterhalten.

Arzu Becerik; Foto: Hülya Sancak
Arzu Becerik: "Der Prozess im Mordfall Dink wurde gezielt gesteuert. Die Täter wurden in Schutz genommen"

​​Wie hat die Türkei die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom vergangenen September aufgenommen?

Arzu Becerik: Die Entscheidung des Gerichts stimmte mit unseren Forderungen überein. Die türkische Regierung war etwas überrascht.

Warum?

Becerik: Der Fall hat mehrere Ebenen; der Mord wurde in mehreren Städten geplant. Der Auftragskiller oder die Auftragskiller sind aus Trabzon nach Istanbul gekommen, um die Tat zu begehen. Es gibt mehrere Tatorte und aufgrund dessen auch mehrere Prozesse. Wir wollten immer alle Prozesse, die in verschiedene Städte laufen, zusammenführen und in einem gemeinsamen Prozess behandeln. Das wurde aber von den türkischen Gerichten stets abgelehnt. Außerdem wollten wir, dass in diesem Fall Beamte, die eine Mitschuld tragen, auch vor Gericht gestellt werden müssen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich für das Zusammenführen der Prozesse ausgesprochen. Außerdem hat das Europäische Menschenrechtsgericht den Schutz der Beamten kritisiert. So wurde immer wieder verhindert, dass man sie vor Gericht stellen konnte. Das Gericht befand, dass die Türkei im Falle Dinks fahrlässig gehandelt hat und daher eine Mitschuld trägt.

Inwiefern handelte die Türkei fahrlässig?

Europäischer Menschenrechtsgerichtshof; Foto: DW
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die Türkei im September 2010 angewiesen, den Hinterbliebenen des Opfers 100.000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen. Dink war im Januar 2007 auf offener Straße in Istanbul von einem Extremisten erschossen worden.

​​Becerik: Das Istanbuler Polizeipräsidium hatte schon von den Behörden der Stadt Trabzon ein Mahnschreiben bekommen und dieses nicht berücksichtigt. Vor und nach dem Mord gab es Anzeichen und Warnungen für ein geplantes Attentat auf Hrant Dink, doch wurden sie nicht ernst genommen. Vor dem Mordanschlag kontaktierte das Istanbuler Regierungspräsidium Hrant Dink und schüchterte ihn ein, aber man informierte ihn nicht über konkrete Morddrohungen gegen ihn.

Der Prozess im Mordfall Dink wurde gezielt gesteuert. Die Täter wurden in Schutz genommen. Beweise, wie zum Beispiel Kameraaufzeichnungen und Attentatswarnschreiben, wurden nicht herangezogen. Zuvor hätte der Staat Hrant Dink unter Personenschutz stellen müssen – doch nichts von dem ist geschehen. All diese Faktoren und Indizien wurden vom Europäischen Menschenrechtsgericht in dessen Urteilsbegründung berücksichtigt.

Hat das Europäische Menschenrechtsgericht Anmerkungen hinsichtlich der Meinungsfreiheit in der Türkei gemacht?

Becerik: Der Gerichtshof hat die Definition des Artikel 301 zum "Türkentum" und zur "Beleidigung des Türkentums" gegenüber ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten als diskriminierend eingestuft. Außerdem schränkt dieser besagte Artikel die Meinungsfreiheit ein. Wer die Regierung und deren Leistungen kritisiert, wird verklagt. Selbst der Ministerpräsident kann Journalisten verklagen, die ihn kritisieren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat diese Artikel als Einschränkung der Meinungsfreiheit verurteilt.

Ein Ministerpräsident muss in der Lage sein, Kritik ertragen zu können. Es existieren viele Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Gerade die herrschende politische Klasse nutzt die Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu ihren Gunsten aus. Es gibt ein sehr ernstes Problem hinsichtlich der Garantie der Meinungsfreiheit in der Türkei. Das ist wohl der größte Unterschied zwischen der Türkei und Europa. Die Politiker haben aber nicht die Absicht, dies zu ändern.

Sind denn die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Türkei verbindlich?

Becerik: Ja. Falls die Entscheidungen nicht akzeptiert werden sollten, gibt es verschiedene Sanktionsformen, bis hin zur Suspendierung der Mitgliedschaft im Europäischen Menschenrechtsgerichtshof.

Hrant Dink; Foto: AP
Politisch grob fahrlässig: Die türkischen Behörden hätten nichts unternommen, um den Mord zu verhindern, befanden die Straßburger Richter. Zwar habe Hrant Dink nicht um Polizeischutz gebeten, allerdings seien die Behörden über Attentatsplänen gegen ihn informiert gewesen.

​​Wird der Täter Ogün Samast geschützt?

Becerik: Ogün Samast wird geschützt. Die Beweise nach seiner Tat wurden nicht lückenlos aufgenommen. Nachdem er festgenommen wurde, wurde er von manchen Kreisen geradezu als Held gefeiert, obwohl das nicht erlaubt ist. Er hat im Gefängnis sogar geheiratet. Mit den neuen Regelungen zur Jugendgerichtsbarkeit wurde sein Fall, aufgrund seines Alters, zum Tatzeitpunkt inzwischen an ein Jugendgericht überstellt.

Ogün Samast hatte einmal vor Gericht mit großen Worten verkündet, dass er nach fünf Jahren wieder aus dem Gefängnis entlassen werde. Falls dieser Prozess kein abschließendes Urteil findet, wird er womöglich Recht behalten (In der Türkei endet nach den neuen Gesetzen die Untersuchungshaft nach fünf bis zehn Jahren. Falls in dieser Zeit kein Urteil gesprochen wird, müssen Häftlinge freigelassen werden – Anmerkung der Redaktion). Gemäß der Gesetzesänderungen muss er wirklich nach fünf Jahren aus der Haft entlassen werden.

Können Sie etwas zum gegenwärtigen Stand des Prozesses gegen Ogün Samast sagen?

Becerik: Dieser Prozess steht immer noch am Anfang. Der Fall begann mit 18 beschuldigten Personen, den Hintermännern, und er scheint auch mit 18 Personen zu Ende zu gehen. Dies ist ein Ablenkungsprozess. Wir haben die richtigen Personen, die den Mord geplant und gesteuert hatten, gefunden. Leider hilft uns das nicht weiter. In diesem Fall wird nur der Auftragsmörder verurteilt, nicht die Strippenzieher.

Die Aussagen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs legen das nahe. Wenn dieser Prozess noch länger dauert, verliert die Türkei an Ansehen. Wenn die Täter aber immer weiter in Schutz genommen und nicht bestraft werden, darf die Türkei nicht behaupten, sie sei ein Rechtsstaat.

Bereut Ogün Samast die Tat?

Becerik: Ogün Samast ist ein Fußballspieler aus Trabzon und erhielt durch diesen Mord einen bestimmten Ruf, welchen er als Bestätigung seiner Persönlichkeit sieht. Er sieht sich nicht als Mörder, während des Prozess schämte er sich kein bisschen. Er ist zufrieden mit sich. Er denkt er, er sei ein Held. Dass er dabei benutzt wird, bemerkt er nicht. Er denkt vielleicht, dass er zu seiner Entlassung einen ähnlichen Ruf bekommt wie seine Sinnesgenossen und Einladungen zu Fernsehsendungen erhält.

Wie reagieren die Familienangehörigen des Opfers auf diese Zustände? Empfinden sie dieses Unrecht nicht als Kränkung?

Becerik: Ich denke nicht, dass sie gegen die Gesellschaft große Ressentiments hegen. Aber die Familie hat ihren Halt verloren, die Angehörigen sind sehr traurig und niedergeschlagen. Auf der anderen Seite, war die Anteilnahme und Unterstützung großer Teile der Zivilgesellschaft sicherlich sehr tröstlich. Sie unterscheiden zwischen Staat und Gesellschaft. Kränkungen erfuhren sie vom Staat und nicht von der Gesellschaft.

Interview und Übersetzung aus dem Türkischen: Hülya Sancak

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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