Politisch ungebrochen

Hat sich Tunesien zu einem Nährboden für radikale Gruppierungen entwickelt? Diese Frage drängt sich nach den jüngsten Konflikten mit bewaffneten Islamisten auf. Slaheddine Jourchi mit Hintergründen

Hat sich Tunesien zu einem Nährboden für radikale, Al-Qaida-nahe Gruppierungen entwickelt? Diese Frage drängt sich nach den jüngsten Konflikten mit bewaffneten Islamisten auf. Slaheddine Jourchi über die historischen Ursachen für das Anwachsen des radikalen Islams in Tunesien.

Poster mit dem Bild des tunesischen Präsidenten Ben Ali; Foto: AP
Statt die Ursachen des Islamismus nachhaltig zu bekämpfen, nimmt das Regime unter Ben Ali Zuflucht im Sicherheitsapparat.

​​Nach Angaben der tunesischen Regierung hatte es zwischen dem 23. Dezember 2006 und dem 3. Januar 2007 landesweit heftige Gefechte zwischen Sicherheitskräften und bewaffneten Islamisten gegeben. Dabei sollen mindestens zwölf Extremisten und zwei Polizisten getötet worden sein.

Wie das Innenministerium mitteilte, hätten die Terroristen Anschläge auf amerikanische und britische Einrichtungen geplant. Sechs der Terroristen seien über die algerische Grenze eingesickert, wo sie mit den dortigen Salafisten der "Gruppe für Predigt und Kampf" zusammengearbeitet hätten.

Dabei hat es das Phänomen des offenen Konfliktes zwischen radikal-islamistischen Gruppen und staatlichen Sicherheitskräften in der jüngeren Geschichte Tunesiens nur selten gegeben. Das ist nicht nur auf die Furcht der Tunesier vor einem Chaos zurückzuführen, bei dem der Staat die Kontrolle über die Sicherheit verliert.

Bei den tunesischen Eliten und politischen Kreisen ist auch die Überzeugung weit verbreitet, dass der friedliche Kampf das probatere Mittel für Veränderungen darstellt.

Die Nationalbewegung entschied sich schon in ihren Anfängen für einen Weg der Reformen. Sie bildete Parteien und forderte, in Institutionen vertreten zu sein und ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher und bürgerlicher Organisationen zu gründen.

Gewalt kaum präsent

Der Führer der Nationalbewegung, Habib Bourguiba, führte darüber hinaus friedliche Demonstrationen ein und suchte den Schulterschluss mit der innerfranzösischen und westlichen Opposition gegen die Kolonisierung.

Auch als die Führung der Verfassungspartei ("Hisb al-Dusturi") auf die Bildung bewaffneter Gruppen zurückgriff, waren deren Aufgaben genauestens definiert und zeitlich begrenzt. Sie sollten Druck auf die französische Regierung ausüben, damit sich diese zu Verhandlungen bereit erklärte.

Nach der Unabhängigkeit hat die Opposition während der letzten 50 Jahre lediglich in zwei Fällen ihre Waffen gegen den Staat erhoben. Einmal geschah dies infolge einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Habib Bourguiba und seinem innerparteilichen Konkurrenten Saleh Ben Jussef.

Habib Bourguiba; Foto: AP
Nach der Unabhängigkeit von Frankreich war Habib Bourguiba erster Präsident der Republik Tunesien

​​Das andere Mal 1980, als eine Gruppe von Nasseristen mit der Unterstützung des algerischen Präsidenten Houari Boumedienne mittels Waffengewalt die Macht über die südtunesische Stadt Qafssa erlangen wollte und dabei gegen Tunesiens Präsident Bourguiba eine bewaffnete Revolution ausrief.

Dieser Rückblick in die Geschichte bestätigt nicht nur, dass politische Gewalt nur in sehr begrenztem Umfang und in Ausnahmefällen im heutigen Tunesien vorkommt. Er zeigt auch, dass politische Gewalt von der Mehrheit der Bürger sowie der politischen und ideologischen Strömungen nicht akzeptiert wird.

Das Aufkommen des militanten Islamismus

Der Anschlag auf die Synagoge auf Djerba, dem mehrere deutsche Touristen zum Opfer fielen, war für die tunesische Öffentlichkeit ein Schock. Auch wenn er bislang der einzige geblieben ist, so minderte dies nicht die Gefahr, die von einer relativ großen Zahl tunesischer Jugendlicher ausgeht, die erfolgreich von Al-Qaida geködert wurden. Denn diese sind nicht nur für die Arbeit an der Basis wichtig, sie haben sich auch schnell zu bedeutenden Kadern entwickelt.

Synagoge in Djerba; Foto: AP
Die Synagoge in Djerba nach den Anschlägen vom April 2002

​​So waren die zwei vermeintlichen Journalisten, die das Attentat auf Schah Massoud in Afghanistan verübten, tunesische Staatsbürger. Und als US-amerikanische Kampfflugzeuge die Höhlen von Tora Bora bombardierten, befanden sich unter den Belagerten und Begleitern Osama Bin Ladens ebenfalls mehrere tunesische Kämpfer.

Auch nach der Untersuchung der Leichen aus den Zügen im Madrider Bahnhof stellte die spanische Polizei fest, dass ein Student aus Tunesien zu den Drahtziehern dieses Verbrechens gehörte.

Kriegsschauplatz Irak

Innerhalb der letzten drei Jahre lässt sich auch eine immer größer werdende Zahl tunesischer Jugendlicher feststellen, die zunächst über Algerien, dann über Syrien und Jordanien an die "Front im Irak" ziehen.

Damaskus hat einige von ihnen an die tunesischen Behörden ausgeliefert. Diese steckten sie ins Gefängnis und behandelten sie nach den gesetzlichen Bestimmungen der Terrorbekämpfung, obwohl die aus den Akten ersichtliche Rechtslage bei vielen eine solche Behandlung nicht nicht rechtfertigte.

Parallel zu den Ereignissen auf regionaler und internationaler Ebene erlebt Tunesien zugleich eine bislang ungekannte Zunahme von Religiosität, die alle Generationen und gesellschaftlichen Kreise umfasst.

Dies zeigt sich auch daran, dass immer mehr Menschen zum Beten in die Moscheen gehen. Schätzungen besagen, dass Hunderttausende Frauen und Mädchen mittlerweile verschiedene Arten des Kopftuchs tragen – einschließlich des Gesichtsschleiers.

Verunsicherte Eliten

All dies sorgt für erheblichen Aufruhr in den Reihen der laizistischen Eliten und der politischen Führungsriege, die geglaubt hatte, mit ihrer seit den 70er Jahren verfolgten Politik das Gespenst des fundamentalistischen Radikalismus für immer aus Tunesien vertreiben zu können.

Statt das Phänomen und dessen Ursachen jedoch zu analysieren, nahm man erneut Zuflucht zum Sicherheitsapparat.

Im Zuge des aufgeladenen Klimas in der Region und der eigenen mangelnden Flexibilität nahm die Regierung sogar den weltlichen politischen Eliten gegenüber eine abweisende Haltung ein und lehnte Reformen und Dialog ab.

Durch diese Haltung konnten jene Elemente erstarken, die durch das Gedankengut der Al-Qaida-Anhänger der "Dschihadistischen Salafiten" beeinflusst sind und deren Ziel es ist, die Sicherheitsmauer, die die tunesische Gesellschaft umgibt, zu durchbrechen.

Nur ein Waffenstillstand?

Die algerische "Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf" und die "Libysche Gruppe für den Kampf" legten für solche Anschauungen den Grundstein. Jedoch kommt der Wunsch einiger Tunesier, ihre darauf gründenden Vorstellungen zu verwirklichen, recht verspätet. Die algerische Gruppe durchlebt schon seit geraumer Zeit eine Strukturkrise, nachdem der Rest der bewaffneten Gruppierungen der Gewalt abgeschworen und das Amnestieangebot Bouteflikas akzeptierte.

Ähnlich verhält es sich mit der "Libyschen Gruppe für den Kampf", die vor einigen Monaten ebenfalls aus einer Krise heraus das Angebot von Ghaddafis Sohn Saif al-Islam annahm und nun in einen Dialog mit diesem getreten ist.

Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen führte die tunesische Gruppierung die organisatorischen, ideologischen und militärischen Vorbereitungen für ihre Operationen jedoch weiter, mit denen sie das Regime und die Gesellschaft überraschten.

Dank der Wachsamkeit der tunesischen Sicherheitskräfte, der Kooperation der Staaten in der Region, als auch der Unterstützung US-amerikanischer sowie europäischer Behörden gelang es, den Einfluss der Islamisten einzudämmen.

Der Triumph der Sicherheitskräfte, den die Regierung über den ersten gemeinsamen Versuch, eine Organisation von Al-Qaida-Symphatisanten zu gründen, errungen haben, bedeutet allerdings nicht, dass damit die Gefahr gebannt ist und mögliche "Schläferzellen" ausgeschaltet wurden.

Die Hydra des radikalen Islams

Was diese Gruppe jedoch in wenigen Monaten realisieren konnte, ist in einem Staat, der sich verstärkt auf seine Sicherheitsapparate stützt und in dem jegliche geheime Aktivitäten beinahe unmöglich sind, nicht zu unterschätzen.

Das kulturelle, politische und gesellschaftliche Klima in Tunesien gestaltete sich in den letzten Jahren günstig für die Entstehung von Gruppierungen, die religiöse Gewalt predigen.

In ihrem Diskurs berufen sie sich einerseits auf die Ablehnung des Westens und des internationalen Systems, als Werkzeug der Juden und Christen gebrandmarkt, und andererseits auf das Argument des Unglaubens, womit sie in erster Linie der Regierung die religiöse Legitimität absprechen, aber auch der tunesischen Gesellschaft, falls diese weiterhin einem "ungläubigen" und "tyrannischen" Staat gegenüber loyal bleibt.

In Tunesien geschah, womit man nicht gerechnet hatte. Das Land muss nun einen realen Terrorismus bekämpfen, die Staatsmacht und die Elite befinden sich nun in einer komplizierten Situation.

Die Regierung ist bereits lange Jahre an der Macht und hält sich seit jeher an die tunesische Volksweisheit "Schlag den Kopf ab und trockne die Adern aus". Das tat sie zwar, jedoch gab es zu viele Köpfe, die ständig nachwuchsen.

Die Elite wiederum verfügt weder über das Wissen noch über die erforderliche Erfahrung im Umgang mit Islamisten. Hinzu kommt, dass ihr die Möglichkeiten einer tatsächlichen Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen vorenthalten werden.

Slaheddine Jourchi

Aus dem Arabischen von Helene Adjouri

© Qantara.de 2007

Slaheddine Jourchi ist tunesischer Journalist und Autor

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