Vorwärts, aufwärts, westwärts

Die Unternehmer-Dynastie Sabanci ist konsequent europäisch. Die Geschichte eines Aufstiegs in 80 Jahren türkischer Republik, erzählt von Michael Thuman

Die Unternehmer-Dynastie Sabanci ist konsequent europäisch. Die Geschichte eines Aufstiegs in 80 Jahren türkischer Republik erzählt Michael Thuman

Özdemir Sabanci, Foto: AP
Özdemir Sabanci

​​Viel näher kann ein Sterblicher dem Himmel nicht kommen. Ganz oben in den Istanbuler Zwillingstürmen der Sabanci-Holding begann für Özdemir Sabanci der 9. Januar 1996 wie jeder andere Tag: mit heißem Tee und einer kleinen Konferenz mit einem Fabrikleiter. Doch dann öffneten sich krachend die holzgetäfelten Bürotüren. Die Sekretärin hatte die Eindringlinge nicht aufhalten können, sie war zu diesem Zeitpunkt schon tot. Schüsse fielen. Neben den Leichen des Konzernchefs und seines Fabrikleiters hinterließen ihre Mörder die Flagge einer obskuren linken Revolutionsgruppe.

Nie zuvor und nie wieder danach hatte sich die Politik so brutal in das Leben der türkischen Industriellenfamilie Sabanci (sprich: Sabandsche) gedrängt. Damals war gerade einmal wieder eine Regierung kollabiert und die nächste noch nicht zustande gekommen. Politiker in Ankara rauften um die Macht und ließen keine Gelegenheit aus, Steuergeld auf eigenen Konten zu privatisieren. Eine Wirtschaftkrise erschöpfte das Land. Im Osten führte die Armee Krieg gegen kurdische Rebellen. So sah die Türkei 1996 aus, sehr uneuropäisch.

Von Anatolien nach Istanbul

Heute, fast acht Jahre danach, wirkt diese Zeit nur noch wie eine düstere Erinnerung. Die Großfamilie Sabanci hat das Attentat nicht vergessen, aber immerhin verkraftet. Die Holding expandiert wie das ganze Land. Dessen Wirtschaft wuchs im vorigen Jahr um 5,5 Prozent. In ihrem Fortschrittsbericht über die EU-Kandidaten wird die Brüsseler Kommission Anfang November die Türkei kräftig loben. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU rückt näher. Die Türkei - ganz europäisch?

Sakip Sabanci, Foto dpa
Sakip Sabanci

​​Das Land vielleicht noch nicht, die Sabancis mit Sicherheit. Als Pioniere auf dem Weg nach Westen dirigieren sie seit vielen Jahren ihre Firmen in der Europäischen Union. Ihr Aufstieg aus einem anatolischen Dorf in die gläsernen Zwillingstürme ihres Istanbuler Hauptquartiers erzählt die Geschichte von der unaufhaltsamen Westverschiebung der Türkei. Sie begann vor 80 Jahren mit der Gründung der Türkischen Republik am 29. Oktober 1923.

Im Istanbuler Stadtteil Levent, wo heute die Zwillingstürme des Sabanci-Imperiums in den Himmel ragen, standen damals Bauernhäuser auf Wiesen. Familienoberhaupt Sakip Sabanci, der Bruder des Ermordeten und seitdem Herr dieses Firmen-Weltreichs, leistet es sich mit 80 Jahren, auch schon mal zurückzuschauen. Seine Autobiografie "Mein Leben" ist in viele Sprachen übersetzt.

Herr einer Welt-AG

Sabancis großer Kopf thront auf einem kurzen Körper, doch die ausladenden Arme machen den Eindruck wett, hier stünde ein kleiner Mann. Wäre er nicht Herr einer Welt-AG geworden, hätte er auch Entertainer werden können. Deshalb liebt ihn das Fernsehen, und er liebt die Kameras. Vor ihnen führt er lachend und redselig seinen Akzent aus Adana vor, der Stadt nahe der östlichen Mittelmeerküste, als wolle er sagen: "Hört her, ein Mann des Volkes." Ganz wie der Vater, der Gründer des Firmenimperiums.

Haci Ömer Sabanci fing in den zwanziger Jahren als Baumwollträger in Adana an. "Von den 85 Piastern, die er am Tag verdiente, gab er 25 für Essen und 10 für ein Bett aus", sagt Sakip Sabanci. "Die restlichen 50 sparte er." Als Safe diente eine Holzkiste. Die Zeiten waren karg.

Kemal Atatürk, Foto: AP
Kemal Atatürk

​​Damals rettete Kemal Atatürk in einem jahrelangen Feldzug die Türkei aus den Trümmern des Osmanischen Reiches. Als letzte Besatzungsmacht zogen die Briten ab. 1923 wurde die Türkei eine Republik. Das Sultanat hatte Kemal abgeschafft, nach französischem Vorbild trennte er nun Kirche und Staat.

Die provozierendste Neuerung: die Gleichstellung der Frau. Polygamie wurde verboten, die Vermählung übernahm der Standesbeamte an Stelle des Imams. Kemal Atatürk interpretierte die neuen Gesetze auf seine Art. Er leistete sich wechselnde Freundinnen, trank, gern auch zu viel, und starb 1938, mit gerade 57 Jahren, an Leberzirrhose. Zu diesem Zeitpunkt war sein Land dem Westen näher gerückt als jedes muslimische Land zuvor.

Beginn einer Geschichte

Haci Ömer Sabanci trank nicht und ging mit Geld und Lebenszeit sehr ökonomisch um. "Sein erstes Erspartes investierte er alsbald in eine Baumwollwaage", erzählt Sakip. Haci Ömer wurde Händler und ließ fortan andere den Rohstoff tragen. 1932, ein Jahr vor Sakips Geburt, kaufte er sich in eine Baumwollfabrik ein. "Damit begann die Geschichte der Sabanci-Gruppe." In den vierziger Jahren kamen zwei Speiseölfabriken hinzu. Haci Ömer entdeckte die ländliche, zurückgebliebene Türkei als Land der Möglichkeiten, der begrenzten freilich.

Eine liberale Demokratie hatte Atatürk seinem Volk nicht beschert, sondern einen bürokratischen, notorisch wehrhaften Staat, der Volk und Unternehmern kaum Freiheit zum Atmen ließ. Die Epochenwende kam mit den Wahlen 1950. Die Türken rächten sich an der kemalistischen Elite und wählten die oppositionelle Demokratische Partei des Volkshelden Adnan Menderes an die Macht.

Er überschüttete Anfang der fünfziger Jahre die Menschen auf dem Land erstmals mit den Verheißungen der Moderne: Straßen, Strom und Schulen. "Regierungsvertreter reisten quer durch Anatolien, um mit den Leuten zu sprechen", erzählt Sakip Sabanci. Die strömten trotzdem dorthin, woher die Moderne kam: in die Städte. Wie Unkraut wuchsen neue, schlecht gebaute Viertel um Istanbul und Ankara - und mit ihnen Konsum und Produktion.

"Wirtschaft braucht Stabilität", sagt Celal Metin, der Konzernmanager, der kein Mitglied der Familie Sabanci ist. Weniger glatt ist sein Nachsatz: "Die Türkei hatte drei Epochen, in denen reformwillige Regierungen klare Parlamentsmehrheiten hatten: Menderes in den Fünfzigern, Turgut Özal in den Achtzigern und heute Tayyip Erdogan. Das war immer gut für die Wirtschaft."

Anatolische Wurzeln

Und natürlich für die Sabancis. In den fünfziger Jahren wuchs die Akbank, die Haci Ömer 1948 gründen ließ, um nicht andere um Geld für neue Investitionen bitten zu müssen. 1954 nahm die Textilfabrik Bossa ihre Arbeit auf. Haci Ömer, dem seine ausgebeulten Hosen und die ungekämmten Haare auch nach seinem Aufstieg vom Baumwollträger zum Konzernchef einerlei waren, wurde zu einem der bekanntesten Unternehmer des Landes.

Seine Söhne wuchsen stilecht anatolisch auf. "Vor unserem Haus in Adana war es staubig und schlammig wie überall", sagt Sakip. "Ich lief ohne Schuhe herum und stieß mir immer wieder den großen Zeh, bis er blutete." So ging das, bis Haci Ömer eine klassizistische Villa am Ufer des Bosporus kaufte, heute die Kunstgalerie der Sabancis. Auf dem gemähten Rasen unter den Magnolienbäumen erholten sich Sakips Zehen. In bester anatolischer Tradition überließen seine Eltern nichts im Leben ihres Sohnes dem Zufall. Sie suchten ihm eine Frau und fanden die geeignete in Sakips Cousine ersten Grades. Die beiden heirateten im Garten der Bossa-Textilfabrik. "Es war gut, dass die Familien sich kannten. Das verhindert Konflikte", sagt Sakip. Was daran schlecht war, merkten sie erst später.

Sakips Frau brachte 1964 eine Tochter zur Welt. Die Kleine war eine Frühgeburt, ihre Füße waren schief gewachsen. Während Sakip und seine Frau verstört von Arzt zu Arzt fuhren, kam ein Sohn zur Welt. Er war spastisch gelähmt. "Erst damals haben wir begriffen, welche bösen Folgen eine Heirat innerhalb der Familie für die Kinder haben kann", sagt Sakip. Die Sippe kämpfte noch mit ihrer anatolischen Herkunft, als das Unternehmen längst über die Grenzen der Türkei hinausschaute. Erst ihr drittes Kind war gesund.

Entstehung eines Wirtschaftsimperiums

Gemeinsam mit europäischen Konzernen zog Sabanci neue Großbetriebe hoch: das Kunststoffwerk Sasa, die Gummifabrik Kordsa. Eine "Holding" entstand. In den siebziger Jahren kam der Ökonom Turgut Özal frisch von der Weltbank aus Washington zu Sabanci. Er sollte die komplizierte Leitung der Fabriken organisieren. "Er wollte unbedingt, dass die Holding nach Istanbul umzieht", erinnert sich Sakip. So geschah es, "obwohl es mir schwer fiel". Der große Sprung nach Westen sei völlig richtig gewesen, gibt Sakip zu. Nach getaner Arbeit kündigte Özal. Er hatte Größeres vor.

Die siebziger Jahre endeten mit einem Paukenschlag. Die Sowjets waren in Afghanistan einmarschiert, die Nato hatte auf die Moskauer Raketen-Bedrohung mit dem Doppelbeschluss geantwortet, als in Ankara im September 1980 die Armee die Macht übernahm, zum dritten Mal nach 1960 und 1971. Die Unternehmer tauchten ab, derweil die Generäle versuchten, die zwischen Anschlägen und Aufruhr schlingernde Türkei wieder aufzurichten. Das gelang. Doch die Wirtschaftskrise blieb.

Vom Aufschwung zum Finanzkollaps

Turgut Özal, Foto: AP
Turgut Özal

​​Die Lösung kam in Gestalt eines ehemaligen Sabanci-Mitarbeiters. Zum Missbehagen der Militärs und der bürokratischen Elite wählten die Türken Özal 1983 zum Premier. Der Mann mit der bildschirmgroßen Sonnenbrille aus Südostanatolien hatte türkische, arabische, kurdische Vorfahren und galt obendrein als religiös. Er revolutionierte das Land. Özal förderte die anatolischen Kleinunternehmer und holte High-Tech-Industrie vom Computer bis zum Kampfflugzeug in die Türkei. Das Land wuchs in den zehn Jahren seiner Regierung vom Haselnussausführer zu einem der großen Exporteure auf dem Weltmarkt.

Dafür stand der Name Sabanci. Die Familie gründete Niederlassungen in England und in Deutschland. Özal legte 1987 fest, wo er sein Land in Zukunft sah. Er erstaunte die EG und sein eigenes Volk mit dem offiziellen Antrag auf Vollmitgliedschaft. Doch dann verschwendeten die Türken wertvolle Zeit. Nach Özals Tod 1993 wechselten die Regierungen wie die zerbrechlichen Gläser in der Teestube. Ein Finanzkollaps lähmte die Wirtschaft. Bis zur Wahl im November 2002.

Auf nach Westen

Da rächte sich das Volk zum dritten Mal in der Geschichte der modernen Türkei an Beamten und Generälen. Ausgerechnet den ehemaligen Islamisten Recep Tayyip Erdogan, dem kemalistische Richter unter dürren Vorwänden schon Politikverbot auf Lebenszeit erteilt hatten, wählten sie zum Premier. Erdogans wertkonservative AKP regiert nun mit Zweidrittelmehrheit, so ganz nach dem Geschmack des Firmenmanagers Celal Metin.

Vielen Beamten und Militärs aus Atatürks Schrot und Korn behagt das weniger. Hinter jeder Reform der neuen Regierung erblicken sie die listenreich getarnte Fratze des Islamismus. Im Sommer 2003 hat Erdogan zwei große Neuerungen durchs Parlament geschoben: weniger Macht dem kontrollsüchtigen Militär, mehr Freiheiten dem unkontrollierbaren Volk. Zielstrebig korrigiert der Premier Atatürks Marschrichtung, nun geht es in den Westen.

EU-Mitgliedschaft als Garant für Demokratie?

Für Sakip Sabanci ist die Türkei längst Teil des seit 80 Jahren heiß ersehnten Europa. "Seit langem sind wir mit Firmen wie der Dresdner Bank, der französischen BNP, Carrefour und Danone in Gemeinschaftsunternehmen verschmolzen. Im vorigen Jahr haben wir 47 Prozent unserer Exporte in die EU geliefert." Wozu dann noch die EU-Mitgliedschaft? "Sie würde unsere Geschäftsrisiken beseitigen und die Türkei unumkehrbar zu einem demokratischen fortschrittlichen Land machen."

Europa, das liegt hoch über Istanbul, in den Zwillingstürmen der Sabanci Holding. Da wird der Tee in Tassen serviert, da sind die Dauervisa für die Schengen-Länder in die Pässe der Manager eingestempelt. Von hier aus werden die private Sabanci-Universität und die soziale Vaksa-Stiftung finanziert. Nur wenige Ecken weiter spielen in einem schlammigen Hinterhof halbwüchsige Jungen Fußball. Barfuß, bis der große Zeh blutet. Die Sabancis leben schon in einem anderen Land. Aber angefangen haben sie genauso.

Michael Thumann

© DIE ZEIT 23.10.2003 Nr.44