Falken und Provokateure im Abseits

Ein Fußball-WM-Qualifikationsspiel, das diplomatische Geschichte geschrieben hat: Die Türkei spielte am letzten Samstag in Armenien. Und dies bot die Chance, dass sich die Regierungen der beiden tief zerstrittenen Nachbarländer aufeinander zu bewegen. Baha Güngör kommentiert.

Während des Besuchs Abdullah Güls als erster Präsident der Türkei am Samstag in der Republik Armenien seit ihrer Gründung 1991 gab es keine nennenswerten Vorkommnisse. Einige kleinere Gruppen protestierten, doch blieben sie ebenso im Abseits der internationalen Aufmerksamkeit wie die "Falken" in Ankara, die Gül gar des "Vaterlandsverrats" beschuldigten.

Der armenische Staatschef Sersch Sarkissjan erwies sich als ein hervorragender Gastgeber und verzichtete auf Äußerungen, die die Atmosphäre belasten könnten. Die nationalistischen Extremisten sowie Provokateure erhielten keine Chance zur Entfaltung.

Dass Gül einen der im heiligen Fastenmonat Ramadan vorgeschriebenen Fastentage ausgerechnet in Armenien und das zusammen mit dem armenischen Präsidenten beenden konnte, hat er der Auslosung der Qualifikationsgruppen zur Fußball-WM 2010 in Südafrika zu verdanken.

Sieg der Vernunft

Es gab viele Befürchtungen, doch am Ende hat die Vernunft gesiegt. Sowohl die Türkei als auch Armenien müssten sich nach dem jüngsten Georgien-Konflikt mehr denn je bewusst sein, dass der Wille zum Frieden und zur Lösung bestehender Konflikte weitaus besser ist als das Beharren auf nationalistischen und unvernünftigen Maximalpositionen.

Sowohl Armenien als auch die Türkei bestanden die internationale diplomatische Reifeprüfung am Fußballplatz mit Bravour. In der Ehrenloge des Stadions verfolgten sie das Spiel gemeinsam. Und Fernsehbilder über ihre freundschaftlichen Gesten symbolisierten auch die Bereitschaft beider Seiten zum Dialog.

Armenien ist sehr daran interessiert, dass die 1993 von der Türkei geschlossene gemeinsame Grenze sehr bald geöffnet wird. Das wäre auch im Interesse der Türkei auf der Suche nach neuen Transportrouten für Erdöl und Erdgas aus dem kaspischen Raum.

Die Türkei gehörte 1991 zu den ersten Ländern, die die neue Republik Armenien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion anerkannt hatte. Doch die historischen Gebietsansprüche der Armenier ärgerten die Türkei derart, dass 1993 die diplomatischen Beziehungen abgebrochen wurden und die Grenze geschlossen wurde.

Chance für den Dialog

In einem Jahr findet das Rückspiel in der Türkei statt. Zeit genug für die Diplomaten beider Seiten, sich vom Ballast historischer Zwänge zu befreien und den Dialogprozess zu forcieren. Seit den Ereignissen von 1915/1916 ist fast ein Jahrhundert vergangen.

Für Armenien war der Tod von Hunderttausenden Armeniern "Völkermord", international vorsichtig argumentierende Diplomaten sprechen von "Massakern". Die Türkei dementiert die Zahl von 1,5 Millionen Armeniern und spricht von rund 200.000 Toten "in den Wirren des ersten Weltkrieges".

Ihrem Land erwiesen derweil die unverbesserlichen türkischen Nationalisten einen sehr schlechten Dienst und warfen Gül wegen seiner Reise nach Eriwan "Vaterlandsverrat" vor.

Diese Kreise wollen immer noch nicht wahrhaben, dass der Nationalstaatsgedanke sich im 21. Jahrhundert sehr stark verändert hat. In Europa haben Völker, die sich im Zweiten Weltkrieg noch schwere Schäden und menschliches Leid zugefügt hatten, den gemeinsamen Frieden geschafft.

Im Balkan sind international unterstützte Bemühungen im vollen Gange, die Gräueltaten der 90er Jahre zu verarbeiten und den Weg zum Frieden zu ebnen.

Dass die Türkei und Armenien auch die Größe zum Frieden zum gemeinsamen Vorteil haben, ist das beste Ergebnis eines Fußballspiels, dessen sportlicher Sieger die Türkei ist. Den diplomatischen Sieg haben Gül und Sarkissjan gemeinsam für sich gebucht.

Baha Güngör

© DEUTSCHE WELLE 2008

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