Eine Gegenperspektive zum islamischen Apostasieverständnis

Nach Ansicht der meisten islamischen Rechtsgelehrten kann auf den Abfall vom Glauben nur die Todesstrafe stehen. Yoginder Sikand stellt eine andere Auffassung vor.

Die Kontroverse über die Konversion eines afghanischen Muslims zum Christentum hat den Blick der Öffentlichkeit auf das islamische Verbot der Apostasie gerichtet.

Frau hält Koranexemplar hoch; Foto: AP
Die Todesstrafe für Abrünnige vom Islam kann nicht mit dem Koran begründet werden, schreibt der indische Gelehrte Asad Sobhani in seinem Buch

​​Die meisten islamischen Religionsgelehrten meinen, dass die Apostasie eines Muslims mit dem Tod bestraft werden müsse. Doch so entwickelt sich der Islam zu einer Einbahnstraße: Während er seine Anhänger zu immer größerem missionarischem Eifer anstachelt, verbietet er ihnen strengstens, ja unter Androhung der Todesstrafe, sich von ihm ab- und einer anderen Religion zuzuwenden.

Aber müssen muslimische Abtrünnige zwangsläufig diese grausamste aller denkbaren Strafen fürchten? Schon öfter wurde diese Sichtweise von Islamgelehrten in Frage gestellt. So auch von dem indischen Gelehrten Asad Subhani, der die Fakultät für Islamstudien am Zanzibar College of Education leitet.

In seinem Buch "Apostasy in Islam" heißt es, den Abfall vom islamischen Glauben infolge eines wirklichen Glaubenswechsels mit dem Tod zu bestrafen, sei eine grobe Verletzung des Diktums aus dem Koran, dass es "in der Religion keinen Zwang" gebe (Sure 2, Vers 256).

Was im Koran steht

Dem Koran zufolge, so Subhani, hat Gott den Menschen die Wahl gelassen, Gutes oder Böses zu tun, an den Islam zu glauben oder ihn zurückzuweisen. Nirgends im Koran stehe zu lesen, dass Apostasie mit dem Tod bestraft werden müsse. In etwa zehn Versen werde im Koran das Thema Abfall vom Islam behandelt, doch die angekündigten Strafen sind eindeutig als solche gedacht, die im Jenseits auf den Menschen warten, nicht in diesem Leben. Deshalb, so die Argumentation, verstoße es gegen den Koran, Apostaten mit dem Tode zu bestrafen.

Im Gegenteil, es sei nichts als Heuchelei - nach dem Koran also selbst eine abscheuliche Sünde -, wenn Abtrünnige unter Androhung der Todesstrafe gezwungen würden, ihrer neu angenommenen Religion wieder abzuschwören, obwohl sie tatsächlich gar nicht an den Islam glauben.

Da sich die Befürworter der Todesstrafe in ihrer Argumentation nicht auf den Koran stützen können, berufen sie sich oft auf die so genannten Hadithe, die Reden und Taten, die dem Propheten zugeschrieben werden. Subhani erwähnt eine ganze Reihe dieser Hadithe, in denen der Prophet den Tod von Apostaten angeordnet haben soll. Er hält jedoch nur einige von ihnen für echt und ist der Ansicht, dass selbst diese genau in ihrem historischen Kontext analysiert werden müssten.

"Verschwörungen" gegen den Islam

Viele Hadithe, in denen von der Todesstrafe für Abtrünnige die Rede ist, bezögen sich spezifisch auf solche Muslime, die sich nicht nur vom Islam abkehren, sondern Verrat und Intrigen anzetteln, die sich gegen den Islam und den islamischen Gottesstaat "verschwören", wie Subhani schreibt. Dies sei aber ein ganz anderer Fall, als wenn jemand sich aus Gründen seiner freien Religionswahl vom Islam abwende.

Deshalb, so erläutert Subhani, habe der Prophet einem der Hadithe zufolge einen Beduinen, der sich vom Islam abgekehrt habe, keineswegs bestraft. Und als der Kalif Umar Ibn Abd al-Aziz von Muslimen gehört habe, die sich vom Islam abgewendet hätten, habe er ebenfalls Anweisung gegeben, diese freizulassen.

In dieser Tradition, so Subhani, hätten eine ganze Reihe Islamgelehrter von frühester Zeit an bis heute die Todesstrafe für friedliche Abtrünnige abgelehnt. Gleichwohl seien diese Stimmen damals wie heute in der Minderheit gewesen.

Man solle die Hadithe, in denen von Apostasie die Rede sei, im Übrigen mit größter Vorsicht betrachten, warnt Subhani. Er erinnert seine Leser daran, dass viele der angeblichen prophetischen Überlieferungen auf "schwachen" oder späten Quellen beruhen.

Er zitiert zwei Berichte über Frauen, die den Islam erst angenommen, sich dann aber wieder von ihm abgekehrt hätten. Der Prophet, so heißt es in diesen Überlieferungen, habe angeordnet, dass diese Frauen entweder Reue zeigen und zum Islam zurückkehren oder getötet werden müssten.

Wie verlässlich sind die Überlieferungen?

Subhani hat die einzelnen Glieder in der Kette jener Überlieferungen analysiert und dabei festgestellt, dass einige der Zeugen von Islamgelehrten nicht als verlässlich angesehen werden. Einer sei sogar dafür berüchtigt gewesen, Geschichten zu erfinden und sie dann dem Propheten zuzuschreiben.

Zu Recht, so Subhani, glauben einige Kritiker der Hadithe, dass diese Überlieferungen zu Unrecht Autorität für sich beanspruchen.

Um diese Position gegenüber der von den Rechtsgelehrten mehrheitlich vertretenen Meinung zu stützen, geht Subhani auf den Fall des Abtrünnigen Abdullah bin Abi Sarh ein, von dem es heißt, er habe sich an der Seite der arabischen Heiden gegen den Propheten gestellt. Dennoch habe der Prophet ihm vergeben.

Dies impliziere, schreibt Subhani, dass "noch nicht einmal ein Abtrünniger, der sich aktiv engagiert und kämpferisch gegen den Islam wendet, notwendigerweise mit dem Tode bestraft werden muss". Die Strafe liege dann vielmehr im Ermessen des Richters, der ihn auch zu einer Gefängnisstrafe verurteilen oder ihn sogar freisprechen könne.

In Bezug auf den Umgang mit Islam-Abtrünnigen steht Subhani der Hanafi-Rechtsschule, deren Haltung von der Mehrheit der afghanischen Rechtsgelehrten, aber auch von den meisten Islamgläubigen in Südasien gebilligt wird, besonders kritisch gegenüber. Er kritisiert diese Schule aufs Schärfste für die unkritische Herangehensweise an den Korpus der Hadithe.

Dabei werde oft sowohl der spezifische historische Kontext einer Überlieferung ignoriert als auch die Tatsache, dass man mit vielen Quellen zu tun habe, die über den langen Zeitraum ihrer Überlieferung hinweg nicht unbedingt integer geblieben seien.

Logischer Fehler

Nur weil sie permanent die unsichere Quellenlage ignorierten, so Subhani, hielten die meisten Hanafi-Gelehrten an der Todesstrafe als Sanktion für Apostasie fest. Subhani habe aber nun einen logischen Fehler in der Hanafi-Argumentation gefunden.

Dieser Rechtsauffassung zufolge müsse eine abtrünnige Frau – im Gegensatz zu einem Mann - nicht getötet werden. Sie gehöre vielmehr so lange ins Gefängnis, bis sie Reue zeige und entweder zum Islam zurückkehre oder eines natürlichen Todes sterbe.

Nur wenn sie sich an anti-islamischen "Verschwörungen" beteilige oder dem Islam und seinen Gläubigen auf sonstige Art aktiv Schaden zuzufügen versuche, solle sie exekutiert werden.

Subhani fragt nun nach den Gründen für diese vergleichsweise nachsichtige Haltung. Auf die Todesstrafe für Frauen, die sich friedlich vom Islam abkehren, werde nur deshalb verzichtet, stellt er fest, weil man sie nicht als "Bedrohung" für den Islam oder die muslimische Gemeinschaft betrachte.

Daraus müsse jedoch folgen, dass Apostasie aus religiösen oder sogar weltlichen Motiven nicht an sich die Todesstrafe verdiene, sondern allenfalls, wenn von einer Verschwörung gegen den Islam, den islamischen Staat oder die Gemeinschaft der Muslime die Rede sein könne.

Die Verhängung der Todesstrafe für "normale Abtrünnige", Männer wie Frauen, sei also falsch, folgert er und distanziert sich damit von der vorherrschenden Position der hanafitischen Rechtsschule. Die Bestrafung dieser Menschen müsse Gott selbst vorbehalten bleiben. "Wenn diese Menschen nicht den Islam bekämpfen wollen, sondern lediglich den Glauben gewechselt haben, sollten sie unbehelligt bleiben", schließt er.

Meinungsvielfalt und Debatten

Subhanis Herangehensweise an das kontroverse Thema Apostasie ist bewundernswert, weil er versucht, innerhalb eines islamischen Paradigmas gegen das unter Muslimen vorherrschende Verständnis davon anzugehen.

Dennoch muss ein Einwand erlaubt sein: Subhani unterscheidet zwar zwischen Menschen, die aus persönlichen Gründen und ohne Feindseligkeit gegen den Islam vom Glauben abfallen, und solchen, die den Islam aktiv zu bekämpfen antreten.

Doch wo zieht man die Grenze? Was genau gilt als "feindselige Haltung" gegenüber dem Islam und was ist eine "Verschwörung"? Denn immerhin scheint Subhani die Todesstrafe für solche Vergehen durchaus als angemessen zu betrachten.

Hier müssen noch deutlichere Kriterien entwickelt werden, damit es im Ernstfall keine Frage der Willkür bleibt. Davon abgesehen muss Subhanis Beitrag zu einer Debatte, die seit Jahrhunderten die Gemüter der islamischen Welt erhitzt – oft mit schrecklichen Folgen – auf jeden Fall begrüßt werden. Sein Eintreten für Religions- und Gewissensfreiheit ist zweifellos bereits ein großer Fortschritt.

Wünschenswert wäre es, wenn sich weitere solche Stimmen erhöben, und zwar lauter als bisher. Und sie müssten sowohl von den engstirnigen Traditionalisten als auch von den verhärteten Islamophoben gehört werden, denn beide halten den Islam für ein monolithisches Gebilde, das nur aus trockenen Rechtsvorschriften bestehe und keinerlei Raum für unterschiedliche Ansichten und Diskussionen lasse.

Yoginder Sikand

© Yoginder Sikand

Aus dem Englischen von Ilja Braun

© Deutsche Übersetzung: Qantara.de 2006

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