Ethnische und religiöse Trennlinien

Der Vorwurf der Wahlfälschung im Irak konnte bisher nicht widerlegt werden, dennoch stimmten die größten Parteien zu, die jetzt bekannt gewordenen Ergebnisse zu akzeptieren. Im Gespräch mit Qantara.de spricht der Irakexperte Gareth Stansfield über die Untiefen der irakischen Politik.

Manipulationsvedacht bei den Wahlen im Irak; Foto: AP
Im heutigen Irak geht es vor allem um eine bestimmte politische Identität, die sich in erster Linie entlang ethnischer und religiöser Grenzen definiert, erklärt Dr. Gareth Stansfield

​​Angeblich gab es bei den Wahlen im Irak Manipulationen. Und doch haben nun die meisten Parteien gesagt, sie würden das Ergebnis akzeptieren. Was ist dran an diesem Verdacht? Und ist nicht absehbar, dass der Streit irgendwann wieder aufbrechen wird, wenn die Bürger nicht sicher sein können, es mit einer regulären Abstimmung zu tun zu haben?

Gareth Stansfield: Die Überprüfung der Wahlfälschungsvorwürfe ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Möglich ist es sicherlich, dass es zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Schließlich stand bei dieser Wahl sehr viel auf dem Spiel, was die Versuchung für alle Beteiligten, die Wahl in ihrem Sinne zu beeinflussen, sehr groß machte. Und doch denke ich, dass ein nicht-manipuliertes Ergebnis im Großen und Ganzen das gleiche Muster aufweisen würde, wie wir es jetzt vor uns haben.

Die Iraker wählen nach ihrem lokalen Zugehörigkeitsgefühl. Damit spiegelt das Resultat die aktuelle Bevölkerungsverteilung über die verschiedenen Regionen wieder. Gleichzeitig hat dies groteskerweise zur Folge, dass, wenn alle Teile des politischen Systems im Irak versuchen, Wahlen zu ihren Gunsten zu manipulieren, die Wahlergebnisse dennoch als repräsentativ zu gelten haben. Reichlich seltsam, aber genauso stellt es sich dar.

Dennoch können die Manipulationsvorwürfe natürlich mittelfristig zu einer Unterminierung der irakischen Regierung beitragen; Die alten Gräben können jederzeit wieder aufbrechen (wenn sie überhaupt jemals zugeschüttet waren ...), was vor allem für die besonders sensiblen Fragen gilt (wie die Forderung der Sunniten nach einer gleich starker Vertretung in Bagdad oder den Status von Kirkuk).

Werden Wahlen denn überhaupt von einer Mehrheit der Iraker als Instrument wirklicher politischer Beteiligung anerkannt?

Stansfield: Das hängt davon ab, mit welchen Irakern Sie sprechen. Die Mehrheit der Schiiten und Kurden sehen das ganz sicher so. Bei den meisten Sunniten sehe ich diese Akzeptanz nicht. Wahlen verhelfen, schon ihrer Natur nach, der Mehrheit zu ihrem Recht, im Falle des Irak also den Schiiten und im Norden den Kurden. Für die Sunniten bedeutet es eine völlige Umkehrung der politischen Verhältnisse, wie sie für mehrere Jahrzehnte galten. Sie können es daher einfach nicht hinnehmen, dass sie plötzlich nicht mehr die tonangebende Gruppe sein sollen.

Spricht der Ausgang der Wahl, so wie er sich jetzt darstellt, dafür, dass es dabei weniger um politische Programme ging, sondern vielmehr um ethnische und religiöse Zugehörigkeiten? Schließlich bekam Allawis "gemischte Partei" nicht viele Stimmen.

Stansfield: Ja, absolut. Wie ich schon sagte, geht es im heutigen Irak vor allem um eine bestimmte politische Identität und diese definiert sich nun mal in erster Linie entlang ethnischer und religiöser Grenzen. Natürlich ist dies auch eine Reaktion auf die lange Tradition von Diktaturen im Land, denen es immer darum ging, alle Formen politischer Kräfte auszuschließen, die denen des Baathismus und arabischen Nationalismus zuwiderliefen.

Das Missmanagement im Irak, das auf Saddams Sturz folgte, verstärkte nur diesen Aufschwung ethnischer und sektiererischer Kräfte in den Verwaltungen, sowohl auf regionaler wie kommunaler Ebene. Wenn aber einmal die Machtverteilung sich in diese Richtung entwickelt hat, ist es sehr schwer, sie aufzuheben und die auseinanderdriftenden Kräfte wieder zusammenzuführen.

Wird die gewachsene Beteiligung der Sunniten am politischen Prozess einen Einfluss auf den sunnitischen Widerstand haben?

Stansfield: Das wird davon abhängen, inwiefern die Sunniten eine wirkliche, entscheidende Rolle innerhalb der neuen irakischen Regierung spielen werden (und dies auch von ihnen so gesehen wird). Derzeit sieht es danach jedoch nicht aus. Sollte der politische Einfluss als zu gering erachtet werden, wird dies zweifellos zu einer noch größeren Unterstützung des sunnitischen Aufstands führen.

Und wie steht es um die politische Kultur im Irak? Werden die Abgeordneten überhaupt in der Lage sein, politische Sachfragen ernsthaft zu diskutieren, oder werden die ethnischen und religiösen Spannungen dazu führen, dass politische Prozesse, wie schon die Bildung der neuen Regierung, de facto verhindert werden?

Stansfield: Dies ist ein ernstes Problem. Es gibt nur wenige Hinweise darauf, dass die politischen Akteure im Irak in der Lage sind, Antworten auf Fragen zu finden, bei denen es darum geht, echte Kompromisse einzugehen.

Hierzu gehören zweifellos die Fragen nach der Rolle der Religion im Land, die Rechte der Frauen, die Struktur des Staates (föderal oder zentralistisch), die Rolle der US-Streitkräfte im Irak, die Kontrolle der Öl-Einnahmen ... — die Liste ist sehr lang. Jedes einzelne dieser Probleme, und vor allem die Fragen nach der Staatsstruktur, die Rolle des Islam, die Kontrolle der Ressourcen und die nach der Rolle der US-Amerikaner, könnte das Land auseinanderreißen.

In welcher Weise kann die EU dazu beitragen, die Lage im Irak zu stabilisieren?

Stansfield: Die EU kann auf vielfältige Weise hierzu beitragen. Zunächst einmal sollte sie etwa versuchen, die irakischen Parteien an einen Verhandlungstisch zu bringen - und zwar außerhalb des Landes. Momentan gibt es zwischen den politischen Schwergewichten einen beklagenswerten und auch gefährlichen Mangel an Kommunikation, vor allem zwischen den Schiiten und Sunniten (Hakim und Kubeisi sprechen nur gelegentlich am Telefon miteinander); die Kurden werden sowieso mit Misstrauen gesehen, was mit ihrer traditionellen Sonderrolle im Land zu tun hat.

Auch die USA werden nicht als unvoreingenommener Akteur wahrgenommen. Das Problem für die EU liegt darin, dass sie von den Irakern als nicht in der gleichen Liga wie die USA spielend angesehen wird. Diese Wahrnehmung müsste zunächst einmal verändert werden.

Das Interview wurde von Larissa Bender und Lewis Gropp geführt.

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Dr. Gareth Stansfield ist Dozent für Nahostwissenschaft am Institut für arabische und Islamische Studien der Universität Exeter. 2004 erschien sein neues Buch " The Future of Iraq. Dictatorship, Democracy, or Division?" im Verlag Palgrave MacMillan

© Qantara.de 2006

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